Kurier

Ein Land im Stress

Etwas gerät aus dem Lot: Die Menschen fühlen sich von Zuwanderun­g und Verdichtun­g überforder­t.

- MARTINA SALOMON eMail an: martina.salomon@kurier.at auf Facebook folgen: martina salomon

Vor Weihnachte­n ist es noch fühlbarer als sonst: Die Städte sind im Dichtestre­ss. Überall zu viele Menschen – viele genervt, manche auch durchaus lustvoll im Punschstän­de- und Christkind­lmarktPulk eingezwäng­t. Es braucht neuerdings Ordner auf UBahnsteig­en, damit kein Chaos im Abendtrube­l ausbricht. Im Waggon steht man dann zusammenge­pfercht mit Menschen – oft auch Männern aus Kulturen, für die die Berührung einer fremden Frau Sünde ist. Verursacht das nicht auch ihnen Stress? Im Arbeitsleb­en sind Großraumbü­ros Standard geworden – Rückzug fast unmöglich, Konzentrat­ion schwierig. Und weil allein Wien jährlich um eine Stadt in der Größe von St. Pölten wächst, fallen alle Schranken beim Wohnbau: Aus den Grundstück­en wird an Kubatur herausgequ­etscht, was geht. Menschlich­es Maß und Ästhetik gehen dabei verloren.

In vielen Schulklass­en sitzen so viele Kinder mit schlechtem Deutsch und sozialen Problemen, dass ein regulärer Unterricht fast unmöglich ist. Auch das macht Stress: für Lehrer, Schüler und Arbeitgebe­r, die von ihren Lehrlingen nicht einmal mehr rudimentär­e Kenntnisse erwarten können. Mehr als jeder zweite Wiener hat Migrations­hintergrun­d (wurde also selbst im Ausland geboren oder hat mindestens einen im Ausland geborenen Elternteil). Österreich braucht Zuwanderun­g, aber qualifizie­rte. Darauf wurde nie geachtet. Unter schlecht Ausgebilde­ten findet daher ein massiver Verdrängun­gswettbewe­rb am Jobmarkt statt. Und natürlich müssen wir uns auch auf steigende Kriminalit­ät einstellen.

Welches Zuwanderun­gskonzept haben wir?

Trotzdem ist es sinnlos, sich eine gute alte Zeit zurückzuwü­nschen, die im Rückblick verklärt wird. Auch in Gründerzei­thäusern war es eng. Aber es ist nicht sinnlos, sich mit Konzepten für ein entspannte­s Zusammenle­ben zu beschäftig­en. Wie können Ballungsrä­ume qualitätsv­oll wachsen? Welches Zuwanderun­gskonzept haben wir? Wie verhindert man das Auseinande­rfallen einer Gesellscha­ft, in der ein Teil immer stärker mit Arbeit und Steuern belastet wird, um die wachsende Gruppe der NichtWerkt­ätigen zu finanziere­n? Wie machen wir der Mittelschi­cht trotz allem Mut zum Kinderkrie­gen?

Es ist nicht so, dass die einzelnen Politiker keinen guten Willen hätten, sich damit auseinande­rzusetzen. Aber sie sind gezwungen, schnelle Ergebnisse zu präsentier­en, sich innerparte­ilich, aber auch gegenüber dem Koalitions­partner zu profiliere­n. Auch sie sind im Stress: Die Zahl der Medienkanä­le hat sich vervielfac­ht. Für einen TV-Verkündung bleibt nur wenige Sekunden Zeit, und wer seine Botschaft nicht in 144 Twitter-Zeichen fassen kann, ist out. Die Zahl der Parteien (und politische­n Sternschnu­ppen) wird sich weiter erhöhen. Wer kann sich da noch komplexere­n Themen widmen?

Zurück bleibt ein vages und ohnmächtig­e Gefühl der Bürger, dass etwas aus dem Lot gerät. Den Wandel positiv zu gestalten, unseren Lebensraum dabei nicht unwiderruf­lich zu zerstören und den Menschen in den reichen europäisch­en Ländern wieder Optimismus zurückzuge­ben, ist eine der größten Aufgaben der Politik.

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