DER JÜNGSTE LIESS ES KRACHEN
Neujahrskonzert 2017. Gustavo Dudamel dirigierte die Wiener Philharmoniker – ein musikalischer Weckruf
Gestatten Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, eine Vorbemerkung – nicht, um das in weiterer Folge Gesagte zu relativieren, sondern um Respekt vor einem wichtigen Künstler auszudrücken: Der Autor dieser Zeilen schätzt den Dirigenten Gustavo Dudamel sehr. Dieser ist ein Glücksfall für die klassische Musik, weil er Menschen zu begeistern vermag wie nur wenige andere. Er ist schlagtechnisch jetzt schon exzellent, und man versteht den legendären Pierre Boulez, der Dudamel als den Begabtesten überhaupt bezeichnet hatte. Er verfügt über eine enorme, kreative wie physische, Energie. Und sein Lächeln ist für Musikerinnen und Musiker bestimmt ansteckend.
Jugendlich-dramatisch
Insofern ist gut nachvollziehbar, warum die Wiener Philharmoniker ihn, den 35-jährigen und bisher jüngsten Mann, am Pult des Neujahrskonzertes mit dessen Dirigat betrauten (dem Vernehmen nach war ursprünglich Lorin Maazel vorgesehen gewesen, der 2014 starb).
Leider ging dieses Experiment, und es war Repertoireund erfahrungsmäßig ein solches, nicht wie erhofft auf. Denn Dudamel ließ an diesem Sonntagvormittag im prachtvoll geschmückten Goldenen Saal des Wiener Musikvereins ausgerechnet jene mitreißende Energie, die man von ihm erwartet hatte, vermissen. Aber wahrscheinlich müssen wir ohnehin alle Klischees, die ihm vorauseilen, vergessen und den höchst seriösen Musiker ausschließlich an seiner eigenen Darbietung messen.
Das Neujahrskonzert unter Gustavo Dudamel: Eine verblüffend kalte Angelegenheit, zumindest was die Emotionen, die sich vom Podium übertrugen (oder auch nicht), betrifft. Ein Konzert mit großer Lautstärke, einigen musikalischen Böllern, voller Effekte (ziemlich plakativer und nicht allzu raffinierter), nicht durchgehend differenziert und sehr rasant. Es wird nicht als eines der besten in die Annalen eingehen.
Schon der Beginn, Franz Lehárs „Nechledil Marsch“, wurde so wuchtig musiziert, als ginge es darum, die p. t. Zuhörer aus einer möglichen Depression, die das vergangene Jahr gebracht hatte, zu reißen. Ein Marsch wie ein Weckruf, passend in unsere Zeit, in der das Grelle besser gesehen und das Laute leichter wahrgenommen wird.
Bei der letzten Zugabe, dem „Radetzkymarsch“von Johann Strauß Vater, dirigierte Dudamel das Publikum so leidenschaftlich wie wenige vor ihm und animierte es mehrfach, lauter zu paschen. Auch das ein bezeichnendes Bild für die Prioritäten – und man erinnerte sich sehnsüchtig an Daniel Barenboim, der das Dirigat dieses Stückes verweigert hatte und stattdessen, ein gutes neues Jahr wünschend, durch die Musikerreihen gegangen war.
Zwischen diesen Eckpfeilern gab es zahlreiche Raritäten (insgesamt sieben Werke, die erstmals bei diesem Anlass aufgeführt wurden) und einige (Wieder)Entdeckungen. Josef Straußens Polka mazur „Die Nasswaldlerin“etwa, dieses hinreißende Stück Wienertum, das zwischen Heurigenund Kaffeehausmusik changiert, ist so grandios, dass man es ab sofort am liebsten alljährlich hören würde.
Wunderschön auch der „Mondaufgang“aus der OttoNicolai-Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“(bei dem auch der Wiener Singverein zum Einsatz kam) – dieses farbenprächtig musizierte Stück, ein Klangwunder, würdigte den Gründervater anlässlich des 175. Geburtstages des Orchesters, der 2017 begangen wird. Auch der Walzer „Tausend und eine Nacht“von Johann Strauß wurde zu einem Höhepunkt des anspruchsvollen Programmes, das weniger bekannte Werke und Hits als zuletzt vereinte.
Ehrfürchtig
Insgesamt wurde man jedoch den Eindruck nicht los, dass sich Dudamel diesem Großereignis geradezu ehrfürchtig näherte und das Konzert zu wenig zu dem seinen machte. Die schnellen Passa- gen liegen ihm, bei dem ein Forte zumeist ein Fortissimo ist, am besten. Bei den Walzern wie dem „Donauwalzer“, wo Strukturierung, Interpretation, RubatoKultur etc. gefragt sind, ließ er als Gestalter vieles vermissen. Das fabelhafte Orchester unter der Führung von Konzertmeister Rainer Honeck, fesch in den neuen Cuts der ehemaligen Punk-ModeLady Vivienne Westwood, ließ ihn aber nicht im Stich.
Der Applaus war, dem Anlass gemäß, enorm. Wenn Dudamel in fünf, zehn, 15 Jahren wiederkommt, wird er ihn sich bestimmt vollends verdient haben.