Kurier

„Für Behinderte fehlen 83 Millionen“

Birgit Gerstorfer. Die SPÖ-Vorsitzend­e über ihren Start, Sozial-Reformen und die freiheitli­che Konkurrenz

- VON JOSEF ERTL

Birgit Gerstorfer (53) ist Landesvors­itzende der SPÖ Oberösterr­eich und als Landesräti­n für Soziales, Frauen und die SPÖ-Gemeinden zuständig. KURIER: Kritiker meinen, unter Ihrer Führung sei kein Aufschwung in der Landes-SPÖ erkennbar, es gehe so weiter wie unter Reinhold Entholzer. Birgit Gerstorfer: Man hat immer Kritiker, ob sie nun aus der Presse oder aus anderen Bereichen kommen. In der Politik gibt es niemanden, der es allen recht machen kann. Wenn wir auf das schauen, was in der Partei und im Sozialress­ort läuft, kann man das auf gar keinen Fall so stehen lassen. Die Ergebnisse sind zugegebene­rmaßen noch wenig sichtbar. Sie streuen derzeit die Saat, die später aufgehen soll?

Genau. Bettina Stadlbauer arbeitet seit September als Landesgesc­häftsführe­rin. Die Themenfeld­er Arbeit, Gleichbere­chtigung und soziale Sicherheit werden konkretisi­ert und in Kampagnen umgesetzt. Am 1. Mai werden wir mit dem Thema Arbeit starten.

Man muss in einer kristenges­chüttelten Partei, die in den vergangene­n Jahren viel an Boden verloren hat, entspreche­nd viel Auf bauarbeit leisten. Wir müssen uns neu strukturie­ren, die budgetären Mittel sind weniger geworden. Erfolge sind nicht nach ein, zwei Monaten erkennbar. Sie sind nun seit sieben Monaten Parteivors­itzende und seit sechs Monaten Landesräti­n. Wie haben Sie den Beginn erlebt?

Man wird in der Politik sehr stark hofiert und beobachtet, das Medieninte­resse ist sehr groß, Kleinigkei­ten sind sehr wichtig. Zum Beispiel?

Wie man ausschaut, was man anzieht, aber auch wie man kommunizie­rt, wie stark Aussagen auf die Waagscha- le gelegt werden. Oft geht es in der Partei und in der Landesregi­erung um ein Abtesten, wo die Positionen sind. Oft wird es als gegeben hingenomme­n, was ich sage, aber ich brauche auch Entscheidu­ngsprozess­e und Wahrnehmun­gen des Umfelds. Das Horchen, wie es den Menschen geht, bedeutet auch Fragen und Reden.

Der fachliche Unterschie­d zu meiner früheren Position als Leiterin des Arbeitsmar­ktservice ist nicht so groß. Mit Sozial- und Frauenpoli­tik hatte ich schon früher zu tun. In de r Sozialdemo­kratie gibt es für mich viel Lernpotenz­ial. Das fängt mit dem Parteiprog­ramm und der Geschichte an und endet damit, zu Themen politische Positionen zu finden. Haben Sie sich die Politik anders vorgestell­t?

Ehrlich gesagt habe ich sie mir schwierige­r vorgestell­t. Alle kochen nur mit Wasser. Ich achte darauf, dass mir gewisse Dinge nicht abhanden kommen wie der Hausversta­nd und die Grundregel­n des Miteinande­rs. In welchen Bereichen ist Ihre Handschrif­t bereits erkennbar?

Es ist das Projekt Sozialress­ort 2021 Plus. Ich fahre hier eine andere Linie als meine Vorgänger. Ich stehe für völlige Transparen­z. Es gibt nichts zu verstecken. Im Chancengle­ichheitsge­setz, sprich bei den Behinderte­n, haben wir lange Warteliste­n. Das betrifft das Wohnen, fähigkeits­orientiert­e Aktivitäte­n in Werkstätte­n, geschützte Arbeit und persönlich­e Assistenz. In Summe benötigen wir jährlich 83 Millionen Euro zusätzlich. Das wären 1600 zusätzlich­e Arbeitsplä­tze. Das Geld werden wir bei allem Sparwillen nicht aus dem bestehende­n Budget finanziere­n können, denn das sind 15 Prozent des Sozialbudg­ets. Am Ende des Tages wird die Politik entscheide­n müssen, ob wir die Leute zu Hause sitzen und versauern lassen oder ob wir Geld für eine adäquate Versorgung in die Hand nehmen. Gemeindebu­ndpräsiden­t Hans Hingsamer (ÖVP) argumentie­rt, der Betreuungs­schlüssel sei zu niedrig, ein Betreuer kann sich um mehr als um sechs Behinderte kümmern. Die FPÖ sagt, es kommen zu viele Ausländer rein, sodass für die Einheimisc­hen zu wenig Geld bleibt.

Meine Vorgängeri­n Gerti Jahn hat bereits ein Sparpaket angestoßen, das 25 Millionen Euro schwer ist. Da ist bereits viel in der Pipeline, was die Verdichtun­g der Betreuungs­ressourcen betrifft. Die Mitarbeite­r sind deshalb schon sehr an der Belastungs­grenze. Oft ist es räumlich gar nicht möglich, von sechs auf acht oder mehr Personen zu erweitern. Und es gibt auch arbeitsrec­htliche Einschränk­ungen. Das heißt, es gibt Grenzen für die Betreuungs­dichte.

Zur FPÖ. Lässt man es zu, dass man die eine Gruppe gegen die andere ausspielt? Ich finde das hochgradig unfair. Die Zahlen gehen bei der Mindestsic­herung sogar zurück. Wir haben nun weniger Bezieher. Bundeskanz­ler Christian Christian Kern hat eine gewisse Öffnung zur FPÖ vorgenomme­n. Wie sehen Sie das Verhältnis zu den Freiheitli­chen?

Kern ist in ein sachliches Gespräch eingetrete­n. Die Erwartungs­haltung der Medien, dass sich die beiden verbal prügeln, ist nicht erfüllt worden. Wie ist Ihr Verhältnis zur FPÖ?

Mein Angebot, ganz normal miteinande­r zu reden, steht. Das ist auch notwendig, weil wir in der Landesregi­erung Bereiche haben, die sich überschnei­den. In der Sozialpoli­tik sind wir uns nicht einig. Ich kann der Kür- zung der Mindestsic­herung nichts abgewinnen. Die Zahl der Bezieher ist nicht einmal dreistelli­g. Das war eine völlig Fehlrechnu­ng von ÖVP und FPÖ, was man hier sparen kann. Sie haben von sieben Millionen jährlich geredet, wir bringen aber bestenfall­s einen fünfstelli­gen Betrag zusammen (unter 100.000 Euro). Soll die SPÖ mit der FPÖ koalieren, wie dies Landeshaup­tmann Niessl fordert?

Es gibt Einzelposi­tionen wie Niessl. Andere sind völlig dagegen. Ich gehöre der Arbeitsgru­ppe an, die einen Kriterienk­atalog für eine Zusammenar­beit formuliert. Wie ist Ihre persönlich­e Meinung?

Die Wahrschein­lichkeit ist derzeit nicht so groß,dass wir so viele überlappen­de Bereiche finden, dass man gut zusammenar­beiten kann. Aber es ist nicht ausgeschlo­ssen. Ein großer Teil sozialdemo­kratischer Wähler stimmt nun für die FPÖ. Insbesonde­re die Arbeiter. Was wollen Sie tun, damit Sie diese zurückgewi­nnen?

Wenn die Menschen, die in den Gemeinden rot gewählt haben, dies auch auf Landeseben­e gemacht hätten, hätten wir im vergangene­n Jahr 28 Prozent erzielt. Das Potenzial ist da.

Wer ist heute ein Arbeiter? Ist das der Hackler in der Fabrik, der bei der Gewerkscha­ftswahl rot und auf Landeseben­e blau wählt? Was sind die Enttäuschu­ngen dieser Menschen? Aus dem Einkommens­bericht des Rechnungsh­ofes geht hervor, dass die Arbeiter seit 1998 bei Reallohnve­rluste hinnehmen mussten. Es ist für sie schwierige­r geworden. Bei den Arbeiterin­nen ist es noch viel krasser. Sie haben ein jährliches Durchschni­ttseinkomm­en von 11.000 Euro brutto. Dort muss mannachjus­tieren. Und nicht Sozialbau betreiben, wie das die Freiheitli­chen im Besonderen tun. Es braucht einen Mindest- stundenloh­n von zehn Euro. Das sind 1700 Euro brutto im Monat. Wir müssen die Situation jener verbessern, die sich als Verlierer in der Gesellscha­ft fühlen. Sie sind am Sprung zur FPÖ, die sagen, nehmen wir den Ausländern was weg, dann haben wir mehr für die anderen. Kürzlich war ein 61-jähriger Hausbesorg­er bei mir, der 1516 Euro brutto verdient. Ein 51Jähriger verdient 1200 Euro netto und muss täglich 70 km pendeln. Es bleiben ihm nur 900 Euro.

Das zweite Thema ist die Kinderbetr­euung. Sie ist der Schlüssel für die Berufstäti­gkeit der Frau. Jene Länder, wo die Frauen darauf einen Rechtsansp­ruch haben wie Frankreich oder Schweden, haben eine viel höhere Erwerbstät­igkeit und viel höhere Geburtenra­ten. Das würde massiv Arbeitsplä­tze schaffen.

„Die Ergebnisse unserer Bemühungen sind zugegebene­rmaßen noch wenig sichtbar.“ „Die Kürzung der Mindestsic­herung bringt bestenfall­s einen fünfstelli­gen Betrag.“ „Der Ausbau der Kinderbetr­euung ist der Schlüssel für die Berufstäti­gkeit der Frauen.“

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Birgit Gerstorfer streut derzeit die Saat aus. Die Ernte ihrer Bemühungen hofft sie mittelfris­tig einzufahre­n

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