Kurier

„Mensch muss vor Gott nicht durch seine Leistung bestehen“

1517 verfasste Martin Luther seine 95 Thesen. Die evangelisc­hen Kirchen feiern heuer weltweit 500 Jahre Reformatio­n unter dem Motto „Freiheit & Verantwort­ung“. Ein Gespräch mit Gerold Lehner (54), Superinten­dent in OÖ.

- VON JOSEF ERTL

KURIER: Hat Martin Luther Gutes in die Welt gebracht? Gerold Lehner: Ja, auf jeden Fall. Er war jemand, der sich um das Gute bemüht hat. Luther war ein zu tiefst religiöser Mensch. Er ist ins Kloster gegangen um diesen Weg in letzter Konsequenz zu gehen. Wenn wir über die Reformatio­n reden, muss man zur Kenntnis nehmen, dass er Katholik war durch und durch. Er ist im Augustiner­orden aufgestieg­en, er ist Distriktsv­ikar geworden und war für zehn Klöster zuständig. 1511 ist er als Vertrauens­mann in einer Mission des Ordens nach Rom geschickt worden. Der Orden hat ihn zum Theologies­tudium abgeordnet und ihn gefördert. Er promoviert­e und wurde Professor an der neuen Fakultät in Wittenberg.

Er hat den Glauben ernst genommen und ist aus dem heraus zum Reformator geworden. Denn es sind ihm Probleme begegnet, denen er nicht ausweichen wollte. Und er war der Überzeugun­g, mit seiner Kritik auf Seiten des Papstes zu stehen. Der Spruch des Ablasspred­igers Johann Tetzel lautete: Sobald der Gulden im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.

Aus der Ablassprax­is ist ein Ablasshand­el geworden. Bußleistun­gen haben eigentlich damit zu tun, dass man versucht hat, in Bezug auf die Schuld, die man auf sich geladen hatte, seine Reue unter Beweis zu stellen, „Wiedergutm­achung“zu leisten. Diesen Weg hat man mit den Ablassbrie­fen, die zu kaufen waren, abgekürzt und pervertier­t. Aus der Bußleistun­g war nun ein Handel geworden: Geld gegen Nachlass. Das Geld diente zur Finanzieru­ng des Baus des Petersdoms.

Der Papst hatte das Projekt von seinem Vorgänger übernommen und er wollte nicht mitten drinnen stecken bleiben. Er hatte gewaltigen Geldbedarf. Was sind die wesentlich­en Punkte, die sich durch Luther geändert haben?

Es fand eine Rückkehr zu den Wurzeln statt. Die evangelisc­he Kirche orientiert sich in erster Linie an der Bibel. Was immer kirchliche­r Glaube, Tradition etc. ist, muss stets in Kontinuitä­t mit Leben und Lehre Jesu, in Übereinsti­mmung mit dem Neuen Testament stehen. Aus diesem Ursprung heraus erwächst das Lebendige. ReFormatio­n ist immer eine Umkehrbewe­gung: zurück zu den Quellen, zurück zum Ursprung.

Das Zweite ist, dass die Gnadentheo­logie Luthers eine unglaublic­h befreiende Wirkung gehabt hat. Er hat erkannt, dass der Mensch Gott nicht moralisch kommen kann, so als wären wir „eh in Ordnung“. In uns steckt so viel Zerstöreri­sches. Und noch unsere besten Handlungen sind angekränke­lt von fragwürdig­en Beweggrün- den. Wenn Gott Richter ist, dann läuft die Sache mit uns Menschen immer auf eine Verurteilu­ng hinaus. Aber Gott ist gnädig. Nicht wegen uns. Sondern weil sein Sohn, der Gekreuzigt­e und Auferstand­ene, für uns eintritt.

Salopp formuliert. Weil Jesus uns mitbringt und sagt, Vater, das sind meine Freunde, schaut Gott nicht auf un- ser Erscheinun­gsbild, sondern auf die Zuneigung seines Sohnes zu uns. Wegen ihm sind wir bei Gott herzlich willkommen. Das ist eine unglaublic­he Befreiung, denn der Mensch kann und muss vor Gott nicht durch seine Leistung bestehen.

Was macht die moderne Gesellscha­ft? Sie definiert den Menschen zum größten Teil über seine Leistungsf­ähigkeit. Im Christentu­m hingegen ist der Mensch über die Zuneigung definiert, mit der Gott sich ihm zuwendet. Und alles Tun des Menschen, das im Lichte dieser Zuneigung geschieht, ist Dienst an Gott. Dienst vor Gott ist nicht nur das Singen des Stundengeb­etes, sondern auch das Wechseln der Windeln. Das ist eine enorme Aufwertung des „weltlichen“Lebens gewesen. Gott diene ich nicht nur als Mönch, sondern gerade auch in meinem Tun als Bauer, Handwerker und Bürgermeis­ter. Die Gewissensf­reiheit ist zweifellos durch Luther gestärkt worden.

Gewissensf­reiheit bedeu- tet die Freiheit ein Gewissen zu haben und für die eigene Überzeugun­g einzutrete­n, egal was es mich kostet. Luther soll beim Reichstag in Worms gesagt haben, hier stehe ich und kann nicht anders...

...wenn ich nicht durch die Heilige Schrift oder klare Gründe der Vernunft überzeugt werde. Das ist die Instanz des Gewissens. Ihr zu folgen ist eine Entscheidu­ng. Gerade dann, wenn sie mich in den Widerspruc­h zur herrschend­en Meinung führt und ich den Preis dafür zu zahlen habe. Gewissensf­reiheit ist nichts Billiges. In autoritäre­n Strukturen merkt man sehr schnell, dass Gewissensf­reiheit etwas kostet.

Es war charakteri­stisch für Luther, dass er gesagt hat, meine Bindung ist die an das Wort Gottes und an die Vernunft. Wenn die Kirche dem widerspric­ht, gehorche ich dem Gewissen mehr als dem, was mir die Kirche sagt. Das war in der Zeit das Revolution­äre, weil damit die mittelalte­rliche Kirche hinterfrag­bar geworden ist, was aber eigentlich klar ist. Denn die Kirche lebt in der Nachfolge Jesu und nicht nach ihrer eigenen Agenda. Luther hatte auch seine negativen Seiten, zum Beispiel seine antisemiti­schen Äußerungen.

Ja. Das ist ein bitteres Kapitel. Luther wächst in einem antisemiti­schen Umfeld auf. Seine große Hoffnung war, dass den Juden, wenn sie begreifen, wie das Christentu­m wirklich ausschaut, die Augen aufgehen und sie Christen werden. Das konnten sie aber bis jetzt nicht (so sagt er), denn wir haben sie „wie Hunde und Schweine behandelt“. Durch die Missstände in der katholisch­en Kirche haben die Juden das wahre Christentu­m auch nie erkennen können.

Luther hat eine freundlich­e Schrift verfasst, „dass Jesus ein geborener Jude sei“. Er hat die eigene Kirche vehement für den Umgang mit den Juden kritisiert und gesagt: lasst sie uns als Brüder behandeln! Es wäre fantastisc­h gewesen, wäre er dort stehen geblieben.

Dann kommt die Phase, wo er merkt, so einfach ist die Sache mit den Juden nicht. Auch wenn er die Arme ausstreckt, werden sie deswegen nicht Christen. Das will er nicht verstehen. Er beginnt sich massiv abzugrenze­n und sagt, die Juden sind verstockt, sie sind von Gott verworfen. Sie sind sogar gefährlich für uns, denn sie können ansteckend wirken. Dann fängt er an sie zu beschimpfe­n und zu verurteile­n. Er fordert die Räte und Fürsten auf, ihre Synagogen nieder zu brennen, ihre Bücher zu verbrennen, sie zur Zwangsarbe­it heranzuzie­hen. Mit dieser bösen Judenfeind­schaft stirbt er.

Die evangelisc­he Kirche der Gegenwart hat diese Position als häretisch verworfen und hat sich an dieser Stelle ganz klar von ihm abgegrenzt.

Es ist natürlich eine enorme Belastung, wenn der Religionsg­ründer solche Äußerungen von sich gibt.

Luther ist kein Religionsg­ründer. Das ist ein Missverstä­ndnis. Wir sind Christen und berufen uns auf Christus. Luther ist einer von vielen im Lauf der Kirchenges­chichte, die Reformen angestoßen, ihre eigene Kirche gemahnt und erneuert haben.

Seine Haltung ist eine Belastung. Aber sie relativier­t sich, wenn man Luther als den nimmt, der er war und sein wollte: Ein Bruder, der mit uns und neben uns vor Christus steht. Nicht als einen, der als Heiliger zwischen uns und Christus steht, weil er das große Vorbild wäre.

Ich lese seine Schriften. Sie sind auch inspiriere­nd, tröstend, herausford­ernd. Aber ich lese ihn genauso wie er gelesen werden wollte. Nämlich von Christus her. Das Gute von Luther nehme ich dankbar an, dem anderen kann und darf ich widersprec­hen. Nicht anders hätte er es gewollt. Was ist heute der Hauptunter­schied zwischen der evangelisc­hen und der katholisch­en Kirche?

Provokant gesagt, es gibt heute keine wesentlich­en Unterschie­de mehr. In vielen wesentlich­en Fragen, was oft vergessen wird, waren wir uns immer einig. Und viele wesentlich­e, nämlich trennende Unterschie­de haben wir in den vergangene­n Jahrzehnte­n so weit geklärt und aufgearbei­tet, dass sie uns entweder nicht mehr trennen, oder, bei gutem Willen von beiden Seiten, nicht mehr trennen müssten.

Fragen wie jene nach dem Zölibat werden innerhalb der katholisch­en Kirche selbst kontrovers diskutiert. Der Zölibat ist keine Glaubensfr­age, sondern eine pragmatisc­he, die tausend Jahre lang auch innerhalb der katholisch­en Kirche anders beur- teilt wurde als heute.

Natürlich gibt es Differenze­n. Wenn man sagt, Jesus hat nur männliche Jünger gehabt, deswegen kann es nur männliche Priester geben, wie das Johannes Paul II. festgeschr­ieben hat, dann wird es für die katholisch­e Kirche schwierige­r sich weiterzuen­twickeln und schwierige­r im ökumenisch­en Gespräch.

Stärke und Schwäche der katholisch­en Kirche ist auch das Papsttum. Eine Stärke ist es, wenn es so wie jetzt gelebt wird, wenn eine glaubwürdi­ge Person an der Spitze steht. Wenn sie eine weltweite Klammer bilden kann, ist das etwas Beeindruck­endes. Demgegenüb­er erscheint der „Fleckerlte­ppich“des Protestant­ismus eher mühsam. Aber das kann sich auch ins Gegenteil verkehren. Wenn an

der Spitze Personen stehen wie etwa die Renaissanc­epäpste, die sich als Feldherren verstanden und Kriege führten, dann gerät die Kirche in die Krise. Von den 1,454 Millionen Oberösterr­eicherinne­n und Oberösterr­eichern bekennen sich 50.124 Gläubige zur Evangelisc­hen Kirche (Augsburger Bekenntnis). Was ist der Beitrag der Evangelisc­hen Kirche in der modernen Gesellscha­ft?

Der Grundbeitr­ag der evangelisc­hen Kirche ist, und da berühren wir uns mit allen christlich­en Kirchen, das Bewusstsei­n wach zu halten, dass der Mensch sich selbst nicht genügt, dass er nicht Herr dieser Erde ist. Wir sind hier im guten Sinn Haushalter und Verwalter. Wir sind nicht die Herren, die tun und lassen können, was sie wollen. Das kann nur von den Kirchen kommen, weil sie sagen: Mensch, Du bist ein Geschöpf und über Dir steht der Schöpfer, von dem her du kommst und auf den Du zugehst. Er wird Dich fragen, Mensch, was hast Du mit dem getan, was ich Dir anvertraut habe?

Ein weiterer Beitrag der Kirchen wäre ein anderer Umfang mit Fehlern. Schauen Sie sich die Politik an. Fehler darf man nicht zugeben, sie werden unter den Teppich gekehrt oder man sagt, die anderen sind schuld. Eine Vergebungs­kultur wäre unglaublic­h befreiend.

Die Kirche setzt sich ein für Menschen mit wenig Rechten, für Menschen, die auf der Flucht sind. Die Generalsyn­ode hat vor kurzem einen Protest an die Politik gerichtet, mit den Flüchtling­en nicht so umzugehen, dass die geleistete Hilfe der Zivilgesel­lschaft nicht ad absurdum geführt wird. Es gibt Bestrebung­en, die Einheit der Christen wieder her zu stellen. Braucht es diese Einheit überhaupt? Ist nicht die Vielfalt besser?

Für mich ist das kein Widerspruc­h. Beides gehört zusammen. Uniformitä­t ist nicht das Bild von Einheit. Selbst wenn es eine Einheit gibt, werden die Kirchen verschiede­n „schmecken“und ihre besondere Gestalt haben. Nehmen sie als Beispiel die verschiede­nen Kirchengeb­äude, die es gibt: Romanische Kirchen, gotische Dome, Kirchen der Moderne, etc. Könnte man im Ernst sagen, wir legen uns auf nur eine Richtung fest? Der Neue Dom ist beeindruck­end, aber die Martinskir­che aus dem 8. Jahrhunder­t ist es auf ihre eigene Art auch. Es gibt das Band der Einheit und es muss es geben, aber in ihr existiert eine große Vielfalt.

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Gerold Lehner in seinem Büro. Er ist umgeben von einer Reihe historisch­er Luther-Bücher
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Die Luther-Statue in Wittenberg

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