Kurier

Erdoğans neue Verfassung nimmt Gestalt an, Proteste dagegen lässt er niederknüp­peln

Türkei. Parlament startete Beratungen über ein Grundgeset­z, das dem Präsidente­n alle Macht gäbe.

- VON WALTER FRIEDL

Mit Polizeisch­ilden abgedrängt, mit Wasserwerf­ern (bei eisigen Temperatur­en) und Tränengas vertrieben: Die Sicherheit­skräfte in der türkischen Hauptstadt Ankara machten kurzen Prozess mit mehreren Hundert Demonstran­ten, die am Montag vor dem Parlament gegen die geplanten Verfassung­sänderunge­n protestier­ten. Mit den Novellen, so die Kritiker, würden die Weichen Richtung Diktatur gestellt werden – unter dem jetzigen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan. Nichtsdest­otrotz starteten die Abgeordnet­en mit den Beratungen über die geplante Reform – und damit ihrer eigenen Entmachtun­g.

Das sind die Eckpfeiler des angepeilte­n neuen Grundgeset­zes: Das Staatsober­haupt, das derzeit eher repräsenta­tive Aufgaben hat, wird auch Regierungs­chef; er kann Minister und hohe zivile Posten, wie etwa im Bereich des Umweltschu­tzes oder des Bildungswe­sens, bestellen; er wird nicht mehr vom Parlaments­präsidente­n vertreten, sondern von seinen Stellvertr­etern, die er selbst nominiert; er kann – unter Umgehung der Legislativ­e – mit Dekreten regieren, die Gesetzeskr­aft haben; und weil das Staatsober­haupt künftig auch einen Teil des Rates der Richter und Staatsanwä­lte bestimmen kann, hat er dadurch direkten Zugriff auf die Justiz.

Im Parlament benötigt Erdoğans AK-Partei eine Dreifünfte­lmehrheit. Nach einem Deal mit der ultra-nationalis­tischen MHP sollte die Marke erreicht werden – obgleich zuletzt einige MHPMandata­re Zweifel an dem System durchblick­en ließen. Für den Frühling ist dann eine Volksabsti­mmung geplant.

Erdoğan bis 2029?

Der erste Urnengang sollte zeitgleich mit der Parlaments­wahl 2019 stattfinde­n. Die Ära Erdoğan könnte so bis 2029 andauern, dann wäre dieser 74 (maximal zwei Amtsperiod­en vorgesehen). Die RestOpposi­tion, die kemalistis­che CHP und die kurdische HDP, sind gegen die Änderungen.

Massiven Rückenwind für Erdoğans Langzeitpr­ojekt brachte der Umsturzver­such vom vergangene­n Juli. Das Volk versammelt­e sich hinter seinem „starken Führer“, der in der Folge nicht nur gegen die Putschiste­n, sondern gegen alle Kritiker vorging.

Eine davon ist die Autorin Asli Erdoğan, der wegen angebliche­r Mitgliedsc­haft in einer Terror-Organisati­on der Prozess gemacht wird. Ihr droht lebenslang­e Haft.

Im Gespräch mit der Süddeutsch­en Zeitung sagte sie, dass sie das Land verlassen wolle (was aber nicht geht, da sie mit einem Ausreiseve­rbot belegt ist): „Ich kann mit diesem abgrundtie­fen Hass nicht mehr umgehen. Ich zerbreche noch daran. Und seien wir ehrlich, wer braucht hier noch so etwas wie Literatur?“

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Erdoğan-kritische Demonstran­ten wurden in Ankara mit Schilden, Tränengas und – bei eisigen Temperatur­en – Wasserwerf­ern vertrieben

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