Erdoğans neue Verfassung nimmt Gestalt an, Proteste dagegen lässt er niederknüppeln
Türkei. Parlament startete Beratungen über ein Grundgesetz, das dem Präsidenten alle Macht gäbe.
Mit Polizeischilden abgedrängt, mit Wasserwerfern (bei eisigen Temperaturen) und Tränengas vertrieben: Die Sicherheitskräfte in der türkischen Hauptstadt Ankara machten kurzen Prozess mit mehreren Hundert Demonstranten, die am Montag vor dem Parlament gegen die geplanten Verfassungsänderungen protestierten. Mit den Novellen, so die Kritiker, würden die Weichen Richtung Diktatur gestellt werden – unter dem jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Nichtsdestotrotz starteten die Abgeordneten mit den Beratungen über die geplante Reform – und damit ihrer eigenen Entmachtung.
Das sind die Eckpfeiler des angepeilten neuen Grundgesetzes: Das Staatsoberhaupt, das derzeit eher repräsentative Aufgaben hat, wird auch Regierungschef; er kann Minister und hohe zivile Posten, wie etwa im Bereich des Umweltschutzes oder des Bildungswesens, bestellen; er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten vertreten, sondern von seinen Stellvertretern, die er selbst nominiert; er kann – unter Umgehung der Legislative – mit Dekreten regieren, die Gesetzeskraft haben; und weil das Staatsoberhaupt künftig auch einen Teil des Rates der Richter und Staatsanwälte bestimmen kann, hat er dadurch direkten Zugriff auf die Justiz.
Im Parlament benötigt Erdoğans AK-Partei eine Dreifünftelmehrheit. Nach einem Deal mit der ultra-nationalistischen MHP sollte die Marke erreicht werden – obgleich zuletzt einige MHPMandatare Zweifel an dem System durchblicken ließen. Für den Frühling ist dann eine Volksabstimmung geplant.
Erdoğan bis 2029?
Der erste Urnengang sollte zeitgleich mit der Parlamentswahl 2019 stattfinden. Die Ära Erdoğan könnte so bis 2029 andauern, dann wäre dieser 74 (maximal zwei Amtsperioden vorgesehen). Die RestOpposition, die kemalistische CHP und die kurdische HDP, sind gegen die Änderungen.
Massiven Rückenwind für Erdoğans Langzeitprojekt brachte der Umsturzversuch vom vergangenen Juli. Das Volk versammelte sich hinter seinem „starken Führer“, der in der Folge nicht nur gegen die Putschisten, sondern gegen alle Kritiker vorging.
Eine davon ist die Autorin Asli Erdoğan, der wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation der Prozess gemacht wird. Ihr droht lebenslange Haft.
Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte sie, dass sie das Land verlassen wolle (was aber nicht geht, da sie mit einem Ausreiseverbot belegt ist): „Ich kann mit diesem abgrundtiefen Hass nicht mehr umgehen. Ich zerbreche noch daran. Und seien wir ehrlich, wer braucht hier noch so etwas wie Literatur?“