Obsessiver Tanz auf dem Vulkan
Starchoreograf Alain Platel und seine Compagnie „Les ballets C de la B“mit „nicht schlafen“
Eine Welt am Rande des Abgrunds. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Bis dato gekannte Ordnungen und Systeme werden plötzlich auf den Kopf gestellt. Wer oben und wer unten ist – das liegt nicht mehr in der Hand des Einzelnen. Dabei ist der radikale Umbruch doch noch nicht ganz vollzogen, aber allgemein spürbar. Psychisch wie auch körperlich.
Mit seiner 2016 uraufgeführten neuen Arbeit „nicht schlafen“taucht Starchoreograf Alain Platel tief in die Welt eines Gustav Mahler ein, ist zugleich aber auch ein Mahner der Gegenwart. Platel nützt Mahlers Musik – dies wurde bei dem vom Tanzquartier arrangierten Gastspiel im Wiener Volkstheater mehr als deutlich – als Basis für ein Pandämonium humaner Begierden und Exzesse.
Ja, es geht um Leben und Tod, um Vergangenheit und Zukunft und um eine Gegenwart, die nur mit Humor zu ertragen ist. Ausschnitte aus den Symphonien (das berühmte Adagietto der Fünften) und Liedern Mahlers werden dank musikalischer Interventionen von Steven Prengels mit der Musik der Pygmäen konfrontiert. Dies ist im Bühnenbild von Berlinde De Bruyckere (ein zerfetzter Vorhang und Pferde-Kadaver) die Folie für Platels virtuosem Tanz auf dem Vulkan.
Grenzenlos
Picassos „Guernica“lässt da ebenso grüßen, wie Egon Schieles Bilder, wenn sich die Körper der acht exzellenten männlichen Tänzer mit jenem der großartigen Performerin Bérengère Bodin vermischen. Oder wenn die Grenzen zwischen obsessiver Gewalt, hemmungsloser Se- xualität und dem zarten Bedürfnis nach Geborgenheit ineinander übergehen.
Denn Platel schafft Momente anrührender Zärtlichkeit und Fröhlichkeit. Zeitgleich aber werden nicht nur Kleidungsstücke im Kampf zerrissen, wird passend zu Mahlers Musik ein Tänzer wie ein Stück Vieh erlegt. Und die Kuhglocken läuten fröhlich dazu. Wie auch andere Tiergeräusche akustisch omnipräsent sind. Die Bestie Mensch ist bei Platel aber doch nicht ganz so schlecht. Einige dezente Hoffnungsschimmer gibt es auch.
Wie auch eine Prise Ironie, wenn Platel das rein klassische Bewegungsvokabular als Stilmittel einsetzt. Sonst aber dominieren die Körperlichkeit und die Aussage in der knapp zweistündigen Suche nach einer besseren Welt von morgen. Ovationen!