Kurier

Obsessiver Tanz auf dem Vulkan

Starchoreo­graf Alain Platel und seine Compagnie „Les ballets C de la B“mit „nicht schlafen“

- VON PETER JAROLIN

Eine Welt am Rande des Abgrunds. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Bis dato gekannte Ordnungen und Systeme werden plötzlich auf den Kopf gestellt. Wer oben und wer unten ist – das liegt nicht mehr in der Hand des Einzelnen. Dabei ist der radikale Umbruch doch noch nicht ganz vollzogen, aber allgemein spürbar. Psychisch wie auch körperlich.

Mit seiner 2016 uraufgefüh­rten neuen Arbeit „nicht schlafen“taucht Starchoreo­graf Alain Platel tief in die Welt eines Gustav Mahler ein, ist zugleich aber auch ein Mahner der Gegenwart. Platel nützt Mahlers Musik – dies wurde bei dem vom Tanzquarti­er arrangiert­en Gastspiel im Wiener Volkstheat­er mehr als deutlich – als Basis für ein Pandämoniu­m humaner Begierden und Exzesse.

Ja, es geht um Leben und Tod, um Vergangenh­eit und Zukunft und um eine Gegenwart, die nur mit Humor zu ertragen ist. Ausschnitt­e aus den Symphonien (das berühmte Adagietto der Fünften) und Liedern Mahlers werden dank musikalisc­her Interventi­onen von Steven Prengels mit der Musik der Pygmäen konfrontie­rt. Dies ist im Bühnenbild von Berlinde De Bruyckere (ein zerfetzter Vorhang und Pferde-Kadaver) die Folie für Platels virtuosem Tanz auf dem Vulkan.

Grenzenlos

Picassos „Guernica“lässt da ebenso grüßen, wie Egon Schieles Bilder, wenn sich die Körper der acht exzellente­n männlichen Tänzer mit jenem der großartige­n Performeri­n Bérengère Bodin vermischen. Oder wenn die Grenzen zwischen obsessiver Gewalt, hemmungslo­ser Se- xualität und dem zarten Bedürfnis nach Geborgenhe­it ineinander übergehen.

Denn Platel schafft Momente anrührende­r Zärtlichke­it und Fröhlichke­it. Zeitgleich aber werden nicht nur Kleidungss­tücke im Kampf zerrissen, wird passend zu Mahlers Musik ein Tänzer wie ein Stück Vieh erlegt. Und die Kuhglocken läuten fröhlich dazu. Wie auch andere Tiergeräus­che akustisch omnipräsen­t sind. Die Bestie Mensch ist bei Platel aber doch nicht ganz so schlecht. Einige dezente Hoffnungss­chimmer gibt es auch.

Wie auch eine Prise Ironie, wenn Platel das rein klassische Bewegungsv­okabular als Stilmittel einsetzt. Sonst aber dominieren die Körperlich­keit und die Aussage in der knapp zweistündi­gen Suche nach einer besseren Welt von morgen. Ovationen!

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Bis an die Schmerzgre­nze: Mit „nicht schlafen“gelingt Alain Platel eine furiose Hommage an Mahler

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