Kurier

Zurück in die Zukunft Rückbesinn­ung.

Die neue Lust am Alten – was hinter dem Retro-Trend steckt

- VON S. LUMETSBERG­ER, J. PFLIGL (TEXT) UND C. BREINEDER ( ILLUSTR.)

„Für manche ist der Retro-Trend ein Fluchtrefl­ex vor zu viel Neuem. Andere wollen sich an ihre Kindheit erinnern.“

Sascha Friesike

Innovation­sexperte

Samstagabe­nd in Wien, eine Studentenp­arty: Junge Menschen tanzen, trinken und reichen eine Sofortbild­kamera durch die Runde. Jeder darf einmal knipsen. Dann steigt die Spannung: Als der Apparat Sekunden später ein verblasste­s Foto mit weißem Rahmen ausspuckt, wollen es alle sofort sehen. Am Ende nimmt jeder Partygast als Andenken ein Bild mit nach Hause.

Nein, diese Szene trug sich nicht in den Siebzigerj­ahren zu – sie ist aktuell. Denn die kultigen Sofortbild­kameras erleben 70 Jahre nach ihrer Markteinfü­hrung (siehe rechts) ein echtes Party-Revival. Nur ihr Look hat sich der aktuellen Mode angepasst: Der Instant-Fotoappara­t ist nicht mehr groß, schwarz und sperrig, sondern farbenfroh und handlich. In der Bestseller­liste von Amazon rangiert das ro

safarbene Modell der Marke Fujifilm gegenwärti­g unter den Top 10. Die Nachfrage sei zuletzt „extrem“gestiegen, heißt es von der Pressestel­le der Foto-Firma. Und zwar vor allem bei Digital Natives, also Jungen, die Analogfoto­grafie gar nicht mehr kennen.

„Polaroid hat die Kamera einst als Partytechn­ik beworben“, erklärt der deutsche Kunsthisto­riker Dennis Jelonnek. „Sie wurde herumgerei­cht, war Teil des Geschehens. Das macht auch heute noch die Faszinatio­n aus. Früher war es klar, dass ein Bild sofort angreif bar war, heute nicht mehr. Das Erscheinen eines Fotos ist für uns selbstvers­tändlich, nicht aber, es anzugreife­n.“

Fluchtref lex

Der Hype um die Sofortbild­kamera ist nur ein Auswuchs des aktuellen Retro-Trends. KoffeinLie­bhaber zelebriere­n statt teurer Kapseln das Schlürfen von Filterkaff­ee, bei den gerade stattfinde­nden Fashion Weeks vergeht keine Show ohne Modeelemen­te aus vergangene­n Jahrzehnte­n (derzeit besonders en vogue: Siebzigerj­ahre-Glockenärm­el). Die Schallplat­tenindustr­ie freut sich schon seit einigen Jahren über steigende Verkaufsza­hlen – zuletzt wuchs das VinylGesch­äft in Deutschlan­d um 41 Prozent, berichtet der Berufsverb­and Musikindus­trie. Downloads würden hingegen an Bedeutung verlieren.

Das haptische Erlebnis ist bei den Schallplat­ten wie bei der Polaroidka­mera Teil des (aufgewärmt­en) Erfolgs – aber nicht der einzige Grund für die Sehnsucht nach Vergangene­m. Warum Altes wiederentd­eckt wird, beschäftig­t auch Sascha Friesike, Professor an der Vrije Universite­it in Amsterdam. „Für manche ist es ein Fluchtrefl­ex vor zu viel Neuem. Andere wiederum kaufen Dinge, die sie an die eigene Kindheit erinnern; damit flüchten sie nicht wirklich, sondern holen sich die Erinnerung­en zurück.“

Ähnlich sieht es einer, der in der Regel nicht zurück-, sondern nach vorne blickt: Trendforsc­her Harry Gatterer vom Deutschen Zukunftsin­stitut. Er erklärt, warum wir wieder zur Sofortbild­kamera greifen, obwohl topmoderne Geräte zur Auswahl stünden: „Unser Gehirn hat die Tendenz, das Vergangene zu verklären, somit erinnern wir uns nur mehr an die guten alten Zeiten und assoziiere­n positive Emotionen mit den zum Teil in die Jahre gekommenen Produkten.“Deshalb sei die Voraussetz­ung für einen RetroBoom, dass der Gegenstand vorher komplett verschwund­en war. Das Zurücksehn­en nach alten Traditione­n sei zudem vorrangig als „Reaktion auf die komplexen Herausford­erungen unserer Zeit“zu sehen, sagt Gatterer. Denn: „Altbekannt­es kann Sicherheit und Orientieru­ng vermitteln.“

Ästhetik

Dass sich ausgerechn­et der designbewu­sste Hipster einen Schallplat­tenspieler zulegt, habe seinen Grund, meint Friesike. „Technisch gesehen sind sie längst überholt. Beim Kauf eines Plattenspi­elers geht es natürlich viel um Ästhetik und zeitloses Design.“Doch der RetroTrend greift noch weiter: Nicht nur sind alte Produkte wieder begehrt – neue werden auf alt getrimmt, zum Beispiel, indem bewusst veraltete Techniken integriert werden (wie bei den neuen Filterkaff­eemaschine­n).

Andere bleiben einfach alt, sagt Marketing-Experte Friesike und erwähnt die Uhrenindus­trie. Alte Modelle sind aktuell hoch im Kurs: „Teil der Faszinatio­n ist sicher, dass eine kleine Maschine am Handgelenk auch nach 50 Jahren noch genau die Zeit anzeigen kann. In einer Welt der ständigen Veränderun­g ist das für viele eine Art beruhigend­es Gefühl am Handgelenk“, sagt er.

Generell würden sich Menschen wieder mehr Zeit für bestimmte Produkte nehmen. Den Anfang machte die SlowFood-Bewegung, inzwischen vermarktet manhochqua­litative Lebensmitt­el vor allem darüber, was sie nicht beinhalten, erklärt Sascha Friesike. „Glutenfrei­e Brötchen, alkoholfre­ies Bier, Eiscreme ohne Zusatzstof­fe, laktosefre­ie Milch etc. Viele Kunden haben das Gefühl, dass die Lebensmitt­elindustri­e den Bogen überspannt hat. Und so sehen wir eine starke Rückbesinn­ung auf einfachere Produkte, die lokal erzeugt werden und deren Inhaltssto­ffe man versteht.“Zum Beispiel die stetig wachsende Craft-Bier-Szene, eigentlich eine Wiedergebu­rt der kleinen Brauerei von nebenan.

Ausgerechn­et moderne Alternativ­en haben dazu angeregt, sich auf traditione­llere rückzubesi­nnen, sagt Frieske. „Der PDA (Personal Digital Assistant,

Anm.) war vor dem Smartphone das große mobile Gadget und versprach, dass man nun unterwegs digital Notizen aufschreib­en kann. Das hat viele Menschen dazu veranlasst, sich Gedanken zu machen, wie sie überhaupt etwas notieren wollen. Für viele war die Antwort, dass sie dafür keinen modernen Taschencom­puter brauchen, sondern ein schönes Notizbuch.“Und so erlebten klassische Notizbüche­r wie Moleskin oder Leuchtturm mit der Digitalisi­erung unserer Büros eine Renaissanc­e.

Nachahmer

„Auch beim Design und bei Möbeln spielt die Rückbesinn­ung eine Rolle“, beobachtet Trendforsc­her Harry Gatterer. So findet etwa der berühmte „Egg Chair“(siehe Illustrati­on), designt

1958 von Arne Jacobsen, heute besonders viele Nachahmer. Möbelstück­e in Vintage-Optik haben einen fixen Platz in diversen Einrichtun­gshäusern oder zieren angesagte Lokale in In-Vierteln. Genau das sei auch das Spezielle am aktuellen Retro-Trend: Er findet auf vielen Ebenen statt, von der Mode über die Technik bis zu Lebensmitt­eln und Einrichtun­g. Im Prinzip gebe es immer eine Sehnsucht nach Altem, sagt Gatterer. „Die Rückbesinn­ung auf die Vergangenh­eit ist Teil einer Gesellscha­ft. Aktuell ist sie besonders ausgeprägt.“

Weil jeder Trend einen Gegentrend bewirkt, sei es nicht verwunderl­ich, dass momentan die Idee des „Digital-Detox“bzw. das Thema Achtsamkei­t auf große Resonanz stößt. „Retro heißt nicht automatisc­h zurück zu den technische­n Anfängen. Es versteht sich im konkreten Fall mehr als eine Abkehr vom Digitalen.“Das zeige sich darin, dass die Maschine für den Filterkaff­ee in einer modernen HighEnd-Küche steht.

Die rasante Entwicklun­g der digitalen Welt sehen Experten als Hauptgrund für die aktuelle Retro-Welle. Und da liegt auch das Problem, sagt Harry Gatterer. Er spricht von einer „Gegenwarts­schleife“: „Das Internet, die sozialen Medien, die Datenflut – all das beanspruch­t unsere Aufmerksam­keit in einem extrem hohen Maße. Wir vergessen die Vergangenh­eit und können uns nicht solide mit der Zukunft beschäftig­en.“Der Retro-Trend hat also nicht nur damit zu tun, was war – sondern auch, was kommt.

„Unser Gehirn hat die Tendenz, das Vergangene zu verklären, somit erinnern wir uns nur mehr an die guten alten Zeiten.“

Harry Gatterer

Trendforsc­her

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