„Wir verstehen soziale Netzwerke immer noch nicht wirklich“
Interview. Iyad Rahwan, Forscher am MIT Media Lab, über Falschnachrichten auf Facebook & Co.
„In den sozialen Medien ist die Geschwindigkeit, mit der sich Information verbreitet, sehr hoch. Die menschliche Fähigkeit, Informationen zu beurteilen, kann damit nicht mithalten“, sagt Iyad Rahwan. Der im syrischen Aleppo geborene Informatiker und Sozialwissenschaftler beschäftigt sich am MIT Media Lab in Boston mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik. Wie soziale Medien zur Zusammenarbeit genutzt werden können, zählt ebenso zu seinen Forschungsgegenständen wie Verhaltensregeln für selbstfahrende Autos. Mit dem KURIER sprach Rahwan über Fake News in OnlineNetzwerken. KURIER: Welche Rolle haben soziale Netzwerke und Fake News bei den US-Wahlen gespielt? Iyad Rahwan: In den USA wird derzeit sehr viel über soziale Medien und die Auswirkungen von Fake News auf die Politik diskutiert. Soziale Medien sind ein Vehikel, mit dem Falschmeldungen transportiert werden. Ich denke aber, dass wir soziale Medien und die Frage, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben, noch immer nicht wirklich verstehen. Die Wissenschaft hinkt hinterher. Warum?
Tools wie Facebook und Twitter zu schaffen, ist eine Sache. Zu verstehen, wie sie mit menschlichen kognitiven und sozialen Prozessen zusammenspielen, ist eine andere. Wir müssen erforschen, wie soziale Prozesse fehlschlagen, wenn es unterschiedliche Geschwindigkeiten von technischen Entwicklungen und der menschli- chen Fähigkeit, darauf zu reagieren, gibt. Wir haben zu wenig Zeit, um Fake News zu überprüfen?
Ja, menschliche soziale Interaktion und Normen sind für ein bestimmtes Umfeld optimiert. In den sozialen Medien ist die Geschwindigkeit, in der sich Informationen verbreiten, sehr hoch. Das gibt uns weniger Zeit, um die Informationen zu beurteilen. Wir erkennen jetzt, dass es zu Problemen kommt, wenn neue Werkzeuge eine Fähigkeit, nämlich die Geschwindigkeit in der Informationen in Umlauf gebracht werden können, erhöhen, ohne die komplementäre Fähigkeit, Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, ebenfalls zu verbessern. Was kann dagegen getan werden?
Wir brauchen neue Werkzeuge, die es uns erlauben, Informationen in Echtzeit zu verifizieren und effizient zu filtern. Die sehe ich noch nicht. In einigen Ländern wird darüber nachgedacht, Online-Netzwerke wie Facebook zu regulieren. Eine Gefahr für die Redefreiheit?
Streng regulierte soziale Medien können zu vielen Problemen führen, eines davon sind nicht informierte Bürger. In der Demokratie braucht man Informationen, um von seinem Wahlrecht Gebrauch machen zu können. Die Redefreiheit ist nicht ohne Grund die Basis moderner Gesellschaften. Umgekehrt ist auch die Sicherheit ein wichtiges Thema, das nicht vernachlässigt werden darf. Hassreden und Falschnachrichten bringen Minderheiten und den sozialen Zusammenhalt in Gefahr. Es braucht also Beschränkungen?
Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein hoher US-Richter einen sehr schönen Satz über die Grenzen der Redefreiheit gesagt. Er meinte, man dürfe in einem überfüllten Theater nicht Feuer schreien, es sei denn, es ist tatsächlich ein Feuer ausgebrochen. Andernfalls könnte Panik entstehen und Leute zu Schaden kommen. Wir müssen Grenzen setzen, die gewährleisten, dass niemand in Gefahr gerät. Es ist eine Frage der Balance. Wie kann eine solche Balance gefunden werden?
Es gibt keine universell gültige Antwort auf diese Frage. Besonders dann nicht, wenn wir es mit einer Technik zu tun haben, die sich schnell verändert. Egal, wo wir die Grenze ziehen, es wird immer Leute geben, die Schwachstellen im System ausnutzen. Aber Gesellschaften kalibrieren und rekalibrieren ständig akzeptable Verhaltensweisen, das wird auch jetzt nicht anders sein.