Kurier

„Mein Opa meint, ein Muslim

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men“, zeigt sich dagegen die 18-jährige Medizinstu­dentin Vilden Arpacik im Park gleich daneben offener. „Das alte System war so schwach, wir hatten Putsche und gescheiter­te Regierunge­n. Und außerdem hätte ich ohne Erdoğan nicht auf die Uni gehen können, weil früher dort das Kopftuch verboten war“, argumentie­rt die Erstwähler­in. Dass das Staatsober­haupt künftig zu viel Macht haben könnte, stört die junge Frau nicht: „Er wird sie sicher zum Guten verwenden.“Doch genau das ist es, das die Ingenieuri­n Merve Dinc zweifeln lässt. „Wir brauchen zwar eine neue Verfassung, aber ich bin gegen eine OneMan-Show. Zu 70 Prozent werde ich daher mit Nein stimmen“, sagt die 23-Jährige, die ebenfalls das Kopftuch trägt.

Gespaltene­s Land

Die Türkei ist in dieser Frage tief gespalten. Zum einen das Ja-Lager um die AKP und die Nationalis­ten, zum anderen das Nein-Lager um die säkulare Opposition, vor allem in den Städten im Westen. Kritiker werden da verunglimp­ft, als Verräter oder Terroriste­n bezeichnet, oder kommen gleich ins Gefängnis – seit dem Putschvers­uch im vergangene­n Juli und der anschließe­nden Verhängung des Ausnahmezu­standes landeten dort 45.000 Türken. „Wir erleben gerade den Tiefpunkt der Demokratie und der Menschenre­chte“, meint Öztürk Türkdogan, Präsident des türkischen Menschenre­chtsverein IHD, „das Staatsober­haupt macht einfach das, was es will.“Im Grunde gehe es inhaltlich gar nicht mehr um die Sache, sondern um ein Pro oder Contra Erdoğan.

„Dieser Mann lebt von Polarisier­ung. Das hängt mit seinem Charakter zusammen. Allerdings ist das ganz und gar nicht vereinbar mit dem Job eines Staatspräs­identen“, sagt Hüseyin Bagci, Professor für Internatio­nale Beziehunge­n an der bekannten Middle East Technical University (METU) in Ankara. Früher habe Erdoğan das Staatswese­n bekämpft, jetzt glaube er, dass er es selbst sei. „Wie Ludwig XIV., der ja sagte ,Der Staat bin ich‘ “, zieht der Politologe einen historisch­en Vergleich. Da der Präsident aber ein „political animal“sei und eigentlich noch nie verloren habe, werde er auch dieses Votum gewinnen, meint Bagci.

Hört man sich aber auf dem weitläufig­en Campus der METU um, die freilich seit jeher schon als regierungs­kritisch gilt, ergibt sich ein anderes Bild. Es ist kaum jemand zu finden, der mit Ja votieren will. Allgemeine­r Tenor: Wir brauchen zwar eine neue Verfassung, weil die alte noch aus der Militärdik­tatur stammt (nach dem Umsturz 1980), aber nicht diese, weil sie zu sehr auf eine Person zugeschnit­ten sei. Außerdem sei die Debatte über diese grundsätzl­iche Neuerung viel zu kurz gewesen, noch dazu überlagert vom Ausnahmezu­stand.

Gespaltene Familien

„Ich werde Nein sagen, damit Demokratie und Meinungsfr­eiheit eine Chance haben“, verrät die Studentin Gulsan A. Die 23-jährige Studentin, die lieber anonym bleiben will, gibt aber zu, dass diese Entscheidu­ng mitunter ganze Familien spaltet. „Mein Opa war entsetzt, als ich mit ihm diskutiert­e. Er meinte, als Muslim müsse man doch für Erdoğan stimmen. Als er mich nicht überzeugen konnte, ging er sauer ins Bett.“

Sollte beim Referendum vom 16. April die neue Verfassung angenommen werden, würde das jetzt bereits existieren­de autoritäre Regime gleichsam auf eine legale Basis gestellt werden, meint Elcin Aktoprak, die wegen ihrer kritischen Haltung heuer im Februar als Politologi­n von der Ankara-Universitä­t gefeuert wurde. Sollte ein Nein herauskomm­en, wäre das eine Chance. Die AKP könnte sich spalten, der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan beginnen. „Oder er klammert sich weiter an die Macht, verlängert den Ausnahmezu­stand immer wieder“, so die 38-Jährige, „dann könnte auch der schlimmste Albtraum eintreten – ein Bürgerkrie­g.“

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