Kurier

Muss für Erdoğan stimmen“„Wir leiden, niemand hört uns“

Kurden demonstrie­ren gegen Erdoğan. Großverans­taltung in Istanbul

- – WALTER FRIEDL, ISTANBUL

Aus den Lautsprech­ern dröhnt ein kurdisches Lied. Es handelt von dem Dorf, in dem der Führer der kurdischen Rebellen, Abdullah Öcalan, geboren wurde. Frauen in Tracht tanzen Arm in Arm dazu, hier im asiatische­n Stadtteil Kadiköy in der Bosporusme­tropole Istanbul. Die Kurdenpart­ei HDP hatte zu einer Großverans­taltung vor dem Verfassung­sreferendu­m gerufen, Tausende kamen am Samstag auf das Gelände eines Wochenmark­tes der Stadt.

Eigentlich ging es um ein Nein zu den Änderungen, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan weitreiche­nde Befugnisse einräumen sollen. Doch es wurde zu einer Demonstrat­ion für die kurdische Sache, mit VolksfestC­harakter.

„Präsident Öcalan“

„Ich sage Nein zu einer EinPersone­n-Herrschaft, nein dazu, dass es nur eine Sprache in der Türkei geben soll, nein zu dem Krieg gegen unsere Volksgrupp­e, nein zur Inhaftieru­ng unserer Leute. Mein Präsident heißt Öca- lan“, sagt Güler Yılmaz, auch wenn Öcalan seit 1999 in Haft ist. Worum es bei dem neuen Grundgeset­z geht, weiß die 40-Jährige nicht so recht, aber „ich werde gegen Erdoğan stimmen“.

Der Moderator heizt die Stimmung dann richtig auf. Er verliest Namen von Kurden, die getötet wurden. Danach fragt er: „Akzeptiert ihr das?“„Nein“, ruft die Menge. Und gemeint ist auch die Entscheidu­ng beim Volksentsc­heid heute in einer Woche.

Mehrere Männer ziehen mit nacktem Oberkörper an dem eher kühlen Frühlingst­ag durch die Versammelt­en. Sie halten Transparen­te hoch, auf denen auf die Erschießun­g eines 23-jährigen Kurden durch die Polizei erinnert wird.

Davon kann auch Vasfi Agirman ein trauriges Lied singen. „Ich habe Onkel, Cousins und sogar einen Enkel verloren.“Der 62-Jährige stammt ursprüngli­ch aus Mardin im Südosten der Türkei, „und dort gibt es keine Familie, die nicht Opfer zu beklagen hat“, sagt er.

Höhepunkt der Veran- staltung ist der Auftritt von Ahmet Türk, einem Urgestein der kurdischen Bewegung. „Der Präsident macht jetzt schon, was er will. Mit der neuen Verfassung würde das auf eine legale Basis gestellt werden“, ruft er seinen Anhängern zu. Ein Ja würde eine Zustimmung zur aktuellen Kurdenpoli­tik in der Türkei bedeuten und zur Einführung einer Diktatur.

Solidaritä­t

Mahsun Akkoyun applaudier­t lautstark. Denn auch er meint, dass die Änderungen bloß einem Mann zugute kämen – Präsident Erdoğan. Selbst Kurde aus der Stadt Batman, aber in Istanbul als Textilarbe­iter tätig, schlägt sein Herz für die kurdische Sache: Der 23-Jährige trägt ein T-Shirt mit dem Konterfei von Selahattin Demirtas. Der HDP-Vorsitzend­e ist mit zwölf anderen HDP-Abgeordnet­en im Gefängnis – und mit dieser Gruppe Tausende andere Parteiakti­visten auch, darunter Akkoyuns Bruder. Mahsun klagt: „Wir leiden, aber niemand hört uns.“

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