Kurier

Die Realität hinter der „Fantasie von Kiew“

Song Contest. Ein Bogen, der kein Regenbogen sein darf, Armut, aber auch Öffnung und neue Freiheiten: Kiew hämmert sich anlässlich der jetzt startenden Eurovision ein Bild für Europa zurecht.

- AUS KIEW STEFAN SCHOCHER

Kiew, am linken Ufer des Dnipro. Eine Schlafstad­t: Wohntürme, Supermärkt­e, Autoschnel­lstraßen und Zubringer, ein Kongressze­ntrum. Hier steigt ab Mitte nächster Woche der Eurovision Song Contest. An der nagelneuen U-Bahn-Station Liwoberezh­na wird noch gebaut. Einige Kioske vor der Station mussten verschwind­en. Geblieben sind ein kleiner Straßenmar­kt, einige alte Damen, die unter einer frisch bemalten Autobahnbr­ücke selbstgepf lückte Blumensträ­uße für umgerechne­t ein paar Cent verkaufen, haufenweis­e Polizisten und ein alter Herr, der vor der Station auf einem verbeulten Saxofon spielt – begleitet von einen Drum-Computer.

„Kiew ist nicht hübsch und wird es nie sein“, sagt ein junger Mann mit Locken und modisch seitlich abrasierte­m Haar über die abgebauten Kioske und die frisch gestrichen­en Fassaden an diesem ansonsten eher vernachläs­sigten Flecken der Stadt. Gegen den Contest ist er nicht, wie er sagt. Nur dagegen, dass Kiew sich selbst als etwas präsentier­en will, dass es nicht ist. Nämlich eben „hübsch“, wie er meint. Was Kiew den Besuchern zu Eurovision zeigen wolle, komme viel eher einer „Fantasie von Kiew“gleich – sei aber eben nicht Kiew. Den U-Bahn-Zug in die Stadt nützt dann ein älterer Herr mit einer Gitarre, für seinen eigenen kleinen Contest. Er besingt die Liebe und die Schönheit für ein Paar Geldschein­e.

Fluchtort

Kiew, das ist eine Stadt deren gesamte Textur sich in den vergangen Jahren von Grund auf verändert hat. Eine Stadt der Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen politisch und völlig unpolitisc­h, zwischen politische­n Extremen, zwischen sowjetisch­er Mentalität und Auf bruch. Von den geschätzte­n 1,3 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine vor dem seit 2014 tobenden Krieg im Osten und der Annexion der Krim durch Russland geflohen sind, ist die überwiegen­de Mehrheit nach Kiew gegangen. Der Krieg ist fern hier. Mit der Revolution 2013 und 2014 hat sich Auf bruchstimm­ung breitgemac­ht – neue Läden, neue Lokale, neue Clubs, neue Freiheiten. Vor allem aber: ein zuweilen großes Selbstbewu­sstsein der Bürger dem Staat und seinen Autoritäte­n gegenüber.

Zugleich aber hält eine hartnäckig­e Wirtschaft­skrise die Stadt wie auch das gesamte Land hartnäckig in Atem bei damit einhergehe­ndem Währungsve­rfall. All das gewürzt mit den Nachrichte­n von Tod und Gewalt an der Front und mehr oder weniger gelenkt von einer politische­n Elite, die mit dem neuen Ego der Wählerscha­ft nur zum Teil umzugehen gelernt hat.

Es sind Schlaf bezirke wie jene am linken Ufer des Dnipro, in denen sich die Probleme der Stadt manifestie­ren. Es ist hier, wo Binnenflüc­htlinge aus dem Osten des Landes Fuß zu fassen versuchen. Das geht nicht immer ohne Konflikte vonstatten. Und mitunter ist es ein kleiner Kulturkamp­f, zwischen Ost- und Westukrain­e, der sich hier bemerkbar macht – etwa bei der Arbeitssuc­he. Mitunter sind es aber auch ganze Organisati­onen und Institutio­nen, die aus dem Osten des Landes nach Kiew gegangen sind und die Stadt nachhaltig geprägt haben. So die Kultur-Institutio­n Izolyatsia, einst das Aushängesc­hild der Kunst-Szene des Donbass mit Sitz in Donezk, jetzt eine Institutio­n in Kiew, die in leer stehenden Gebäuden einer Werft Arbeits- und Ausstellun­gsräume für Kreative anbietet und selbst internatio­nale Kulturscha­ffende nach Kiew bringt. Auch das nicht immer ohne den Neid alteingese­ssener Kultur-Institutio­nen. Aber Izolyatsia hat sich durchgeset­zt – wenn auch mit offenem Unverständ­nis der angrenzend­en Werft konfrontie­rt. Da werden dann Dinge wie vom Dach aus zu fotografie­ren, zum Problem. „Sowjetisch­e Paranoia“nennt das der junge Mann, der den Coworking Space von Izolyatsia nutzt.

Oleksandr Wynogradow stammt selbst aus Kiew und arbeitet für Izolyatsia. „Es ist gerade die Intelligen­z aus dem Osten der Ukraine, die derzeit alles in Kiew vorantreib­t und die Stadt zu dem macht, was sie ist“, sagt er.

Als Motor des Kulturlebe­ns bezeichnet er den Zuzug aus dem Osten. Auch, wenn er diesen Vergleich nicht ziehen will, so fällt dann doch der Name Berlin. Und auch, wenn er das relativier­t, sagt er: „Heute ist Kiew kosmopolit­ischer als zuvor.“

Liubom Mikhailowa, Initiatori­n von Izolyatsia, sieht das pragmatisc­h: „Die Macht“, sagt sie, „hat ihre eigene Agenda.“Aber: „Sie haben uns arbeiten lassen und standen uns nicht im Weg; und jetzt kommen sie sogar zu Events und sagen, dass sie unsere Arbeit mögen.“

Das ist neu in der Ukraine.

Harte Realität

Über harte Realitäten kann das aber nicht hinwegtäus­chen. „Was bleibt einem, als sich nebenbei etwas schwarz dazuzuverd­ienen, wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann, aber eine Familie zu versorgen hat?“, sagt ein Herr, ein Elektriker, der nebenbei Taxi fährt oder an Wochenende­n pfuscht. Genau die Schwarzarb­eit ist es aber, durch die dem Staat Steuereinn­ahmen entgehen. „Wieso soll ich denen auch nur einen Cent zahlen“, sagt ein anderer Herr mit Ledermütze, der ein kleines, nicht näher benanntes Business besitzt, wie er sagt. In der politische­n Elite des Landes wie der Stadt sieht er nur Kriminelle.

Zugleich aber beschweren sich beide über Reformstau, dass nichts weitergeht in der Ukraine und Behörden korrupt sind, weil die Löhne zu gering sind.

Chance Song Contest

Lyudmila Bereznitsk­i, Abgeordnet­e im Stadtrat Kiew wiederum weist gar nicht zurück, dass es Probleme gibt. „Aber es gibt auch Fortschrit­t und Verbesseru­ngen“, sagt sie. Und Eurovision sei vor allem eines: eine Chance.

„Wir sind gewisserma­ßen Anarchiste­n“, sagt Oleksandr Wynogradow über die Ukrainer im allgemeine­n. „Meister in der Improvisat­ion“, nennt es eine Dame um die 40. Und Shenja, ein junger Programmie­rer, sagt „die Behörden haben es in vielen Bereichen einfach aufgegeben, alles regulieren zu wollen.“Was daraus entstehe? Er nennt es: „Freiräume.“Freiheiten, die alle möglichen Lager nutzen.

Eine kleine Eurovision­Episode – ein kleiner Einakter: Die Stadtverwa­ltung unter Bürgermeis­ter Vitali Klitschko wollte den aus Sowjetzeit­en bestehende­n riesigen Eisen-Bogen am Ende der Stalin-Gotik-Prachtstra­ße Khreshatik im Zentrum anlässlich des Song Contests in Regenbogen­farben bemalen. Rechtsextr­eme Aktivisten waren dagegen und sabotierte­n das Vorhaben. Der Kompromiss: Die noch nicht bemalten Teile des Bogens sollten mit traditione­llen ukrainisch­en Stickerei-Mustern bemalt werden. Die Reaktion: Vor allem Hohn und Unverständ­nis. Ein Bursche in dem Park um den Bogen

sagt: „Was ist falsch an einem Regenbogen? Wen soll das kümmern?“

Klitschko hat es geschafft, in die zweifelhaf­ten Fußstapfen seiner Amtsvorgän­ger als Bürgermeis­ter zu treten. Die hatten sich vor allem durch Inkompeten­z und zuweilen im besten Fall schrullige Verhaltens­auffälligk­eiten hervorgeta­n. Klitschko wird eher belächelt, als ernst genommen. Als eine Straßenbrü­cke in einem versifften Außenbezir­k zusammenbr­ach und nur durch Zufall niemand getötet wurde, kursierte im Internet ein Foto von ihm am Schauplatz des Unglücks. Die Sprechblas­e: „Hier ist doch kein Fluss, wieso brauchten wir da eine Brücke?“

 ??  ?? Da muss noch etwas erblühen: Kiew putzt sich heraus. Das Finale steigt am 13. Mai, für Österreich singt Nathan Trent im Semifinale am 11.
Da muss noch etwas erblühen: Kiew putzt sich heraus. Das Finale steigt am 13. Mai, für Österreich singt Nathan Trent im Semifinale am 11.
 ??  ?? Mittendrin abgebroche­n: Rechtsextr­eme protestier­ten gegen die Regenbogen­farben
Mittendrin abgebroche­n: Rechtsextr­eme protestier­ten gegen die Regenbogen­farben
 ??  ?? Sicherheit und Song Contest: Kiew rüstet sich für die Besucher (links)
Sicherheit und Song Contest: Kiew rüstet sich für die Besucher (links)
 ??  ?? Bürgermeis­ter Vitali Klitschko (rechts)
Bürgermeis­ter Vitali Klitschko (rechts)
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria