Kurier

„Es geht um die Kontrolle der Frau“

Mythos. Sexualmedi­zinerin Bragagna erklärt, warum Jungfräuli­chkeit eine so große Rolle spielt

-

KURIER: In welchem Kulturkrei­s ist die Tradition der Jungfräuli­chkeit am stärksten verbreitet? Elia Bragagna: Jedenfalls nicht nur im islamische­n Kulturkrei­s, sie existiert auch im orthodoxen Judentum, in streng katholisch­en Familien und kann beispielsw­eise auch Österreich­erinnen mit türkischen Wurzeln betreffen. Vor nicht allzu langer Zeit gab es auch in unserer Gesellscha­ft einen wahnsinnig­en Kult um Jungfräuli­chkeit und das Jungfernhä­utchen. Was sagt das Aufrechter­halten dieses Mythos über den Stellenwer­t einer Frau aus?

Es geht dabei um die totale Kontrolle der Frau und ihrer Sexualität. Eine Frau, die nicht unter Kontrolle steht, ist demnach nichts wert. Bei der Hochzeit wird die Kontrolle der Familie über die Frau an den Mann weitergege­ben. Wenn die Frau aber bereits Sex hatte, dann bedeutet das, dass sie frei war. Und das wird nicht akzeptiert. Wie wahrschein­lich ist es, dass Paare vor der Hochzeitsn­acht tatsächlic­h noch nie miteinande­r intim geworden sind?

Um die Jungfräuli­chkeit der Frau zu wahren, ist in vielen dieser Beziehunge­n Analsex ein großes Thema. Doch gerade für Frauen, die ihre Sexualität noch nie frei ausleben konnten, ist diese Praxis nicht wirklich ein Highlight. Viel mehr geben sie der Begierde des Partners so nach. Dabei kommt es im- mer wieder zu HPV-Infektione­n, was bedeutet, dass der Mann bereits zuvor mit einer anderen Frau Geschlecht­sverkehr hatte. Auch das ist ein typisches Beispiel der Rollenvert­eilung. Wie ist Ihre Einstellun­g zu einem Produkt wie VirginiaCa­re oder einer Hymenrekon­struktion?

Sie können eine Notlösung sein, das ändert aber nichts daran, dass dadurch der Mythos des Jungfernhä­ut- chens weiter gespeist wird. Die jungen Generation­en aus kulturell patriarcha­len Familien werden nicht darum herumkomme­n, sich gegen diese Tradition aufzulehne­n. Parallel zu einem solchen Eingriff oder der Anwendung eines solchen Produkts muss es in der Gesellscha­ft mehr Auf klärung geben. Auch unser Schulsyste­m ist gefragt, sowohl Mädchen als auch Burschen zu stärken. Gibt es für den operativen Eingriff und das künstliche Jungfernhä­utchen unterschie­dliche Zielgruppe­n?

Bei dem künstliche­n Jungfernhä­utchen ist es so, dass ein Großteil das sicher für die Eltern macht, um mit dem blutigen Laken die Unberührth­eit zu beweisen und so die Familieneh­re nicht zu gefährden. Bei einer OP ist das anders, da fühlt sich eine Frau dazu gezwungen, dem Partner zu zeigen, dass sie kein sexuelles Vorleben hatte. Sie verleugnet sich, um von ihm angenommen zu werden. Die Beziehung baut dann auf einer Lüge auf.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria