Kern will noch wichtige Projekte beschließen, „egal, mit wem“
Ein Jahr Bundeskanzler. Christian Kern sitzt mit der FAZ in seinem Arbeitszimmer, auf der Ablage liegen Bücher: „Homo Deus“über die Zukunft der Menschheit und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften.“Ein Jahr nach dem Einzug ins Kanzleramt gibt es weder Ze
Herr Bundeskanzler, Eva Glawischnig hat beim Rücktritt gesagt, als Politikerin müsse man 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, verfügbar sein. Haben Sie da an Ihr Leben gedacht?
Ich habe jedenfalls zustimmend genickt. Aber mit allem Respekt – sind die Politiker wirklich so wichtig? Wir sind gerade acht Millionen Einwohner, wie ein kleines deutsches Bundesland.
Das hat mit wichtig nichts zu tun. Durch Social Media und die Online-Zeitungen wurde die Politik extrem beschleunigt. Das politische Geschehen quasi auf rund um die Uhr verlängert. Gleichzeitig erwarten sich viele Bürgerinnen und Bürger fast schon rund um die Uhr Erreichbarkeit. Die Konsequenz – kein Privatleben mehr?
Oh ja, ich habe ja auch Familie, aber hatte schon mal mehr Zeit für sie. Außenminister Kurz zieht sich aus der innenpolitischen Debatte eher zurück.
Das ist angesichts der Aufgabe beim Außenminister auch nicht überraschend. Wollen Sie ihn stärker in die Innenpolitik hereinziehen?
Die Verantwortung des Bundeskanzlers endet nicht bei der Außenpolitik. Wir haben mit dem Plan A ein umfassendes Konzept vorgelegt, wie wir uns die Zukunft Österreichs vorstellen. Das reicht von der Wirtschaft zu allen Bereichen der Gesellschaft, von der Frauen- zur Sozial- und Umweltpolitik. Seine Strategie ist offenbar, sich hier nicht zu involvieren. Das kannst du vielleicht als Außenminister, aber als Parteiobmann wird ihm das nicht mehr gelingen. Eva Glawischnig hat auch gesagt, die politische und mediale Aggressivität sei schlimmer.
Ich weiß nicht, ob es zugenommen hat, ich bin ja erst kurz dabei, aber das absolute Niveau ist schon erheblich. Und die Spirale dreht sich weiter, warum sagt nicht einer, ich spiele da nicht mehr mit?
Na ja, Aggressivität hat mir noch keiner nachgesagt. Aber ich halte das, was in den Social Media passiert, demokratiepolitisch für extrem bedenklich. Es gibt da eine bewusst gesteuerte Meinungsmache durch die Social Bots, also Fake-Profile, die politische Widersacher niedermachen oder verleumden. Das kann demokratiezersetzend werden. Vor einem Jahr formulierten Sie heftig: „Ich will diese Rituale nicht mehr und diese Inhaltslosigkeit.“Seitdem ist nichts besser geworden.
Auch wenn viele meinen, der Bundeskanzler ist für alles zuständig, kann ich da nur für mich sprechen. Der Plan A ist über Monate entwickelt worden und bietet 145 Seiten Inhalt. Dass die öffentliche Debatte eher geprägt ist durch die Frage, wer mit wem kann und welche Anzüge trägt, ist Fakt. Da sind die Zeitungen aber durchaus mitverantwortlich. Was die Rituale betrifft, habe ich sie reduziert, und bin zumindest ein Mal in der Woche draußen, um Leute zu treffen. Was einem wiederum den Vorwurf des Wahlkampfes einträgt. Aber dafür hätten Sie nicht den Pizzaboten spielen müssen. War das ein Fehler?
Nein, ganz und gar nicht. Das war der Einstieg in unsere Kampagne für die Mittelschicht. Es ist sehr schwierig, auf dem herkömmlichen Weg politische Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir wollen z. B. 20.000 Jobs für Menschen über 50 schaffen, Studienbeihilfen erhöhen oder Wartezeiten auf medizinische Untersuchungen reduzieren. Dafür bekommen wir kaum Aufmerksamkeit, aber der Blick durchs Schlüsselloch, wer kann mit wem, das wird beschrieben. Sie haben zuletzt immer nur reagiert, warum nicht agiert nach Mitterlehners Rücktritt ?
Sehen Sie, das habe ich gemeint. Jetzt reden wir wieder über Taktik. Niemand wählt eine Partei wegen ihrer Taktik. Aber Sie haben doch auch taktiert. Zunächst hieß es, Kurz müsse Vizekanzler werden, dann doch nicht, dann hieß es Minderheitsregierung.
Dass der ÖVP-Obmann die Verantwortung für die Umsetzung des Regierungsübereinkommens, das er selbst unterschrieben hat, übernimmt, habe ich für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Das mit der Minderheitsregierung war Teil der ÖVP-Inszenierung, eine bewusste Ablenkung. Aber auch Sie haben taktiert.
Mein Verständnis von Politik ist, Verantwortung zu übernehmen, also auch Dinge zu tun, die einem nicht zum eigenen Vorteil gereichen. Das hätte ich auch von Kurz erwartet. Wir haben uns dagegen gewehrt, dass die ÖVP dem Land sechs Monate Stillstand verordnet. Wir wollen etwas weiterbringen mit dem Projekt zur Bekämpfung der Altersarbeitslosigkeit, mit den höheren Stipendien für 40.000 Studenten, mit der Frauenquote in Aufsichtsräten und dem Ausbau der Forschungsmittel. Deshalb haben wir die Entscheidung darüber ins Parlament verlagert. Wird der Vizekanzler blockieren oder Lösungen suchen?
In Wolfgang Brandstetter habe ich Vertrauen, wie die ÖVP entscheidet, wird man sehen. Wenn sich die Sozialpartner beim Mindestlohn nicht einigen, ist wieder die Regierung am Zug. Der ÖGB will angeblich gar keinen Mindestlohn.
Natürlich will der ÖGB höhere Löhne. Aber es geht ja nicht darum, den ÖGB zu befriedigen. Mir geht es um 300.000 Menschen, die weniger als 1500 Euro verdienen. Davon sind mehr als 200.000 Frauen. Wenn es da keine Fortschritte gibt, müssen wir noch mehr Druck machen. Wenn sich die Sozialpartner nicht einigen, wollen Sie das mit der ÖVP durchsetzen?
So steht es im Regierungsprogramm. Bei der Abschaffung der kalten Progression will die ÖVP alle Gehälter begünstigen, die SPÖ nur die niedrigeren. Wollen Sie das mit der FPÖ machen?
Wir wollen die volle Steuerentlastung bei Einkommen bis 5800 Euro. Also für 96 Prozent der Bürger. Es gibt aber auch 2,3 Millionen Menschen, deren Einkommen pro Jahr unter 11.000 Euro liegen. Diese Menschen wollen wir auch entlasten. Fürchten Sie einen gemeinsamen Beschluss mit der FPÖ, weil Sie dann im Wahlkampf nicht mehr gegen Schwarz-Blau polemisieren können?
Da sind Sie schon wieder auf der TaktikEbene. Politik ist in Österreich so.
Mich interessiert nur, wie wir den Mindestlohn für 300.000 Menschen schaffen. Im Zweifel auch mit der FPÖ?
Mir ist egal, mit wem, der erste Ansprechpartner bleibt die ÖVP. Die 20.000 Älteren sollen einen Arbeitsplatz bekommen, internationale Großkonzerne bei uns Steuern zahlen. Das sind die Fragen, über die wir reden müssen. Da ist mir jeder Bündnispartner recht. Wenn Sie nach der Wahl sozialpolitische Ideen eher mit der FPÖ eher durchbringen, wäre Ihnen eine FPÖ-Koalition recht?
Wenn die FPÖ unser Programm 1 zu 1 übernimmt. Das macht kein Koalitionspartner, also nochmals: Übereinstimmung in der Sozialpolitik könnte zu einer Koalition mit der FPÖ führen?
SPÖ und FPÖ haben in vielen Fragen völlig unterschiedliche Menschenbilder. Wir machen jetzt in Ruhe den Kriterienkatalog. Sehr viel Ruhe haben Sie nicht.
So viel Ruhe haben wir schon, die Übung ist ja nicht außergewöhnlich komplex. Wir definieren, was wir wollen, und schauen, wer bereit ist, mit uns zu gehen. Vor einem Jahr hieß es, „keine Koalition mit den Hetzern“, und da haben Sie die FPÖ gemeint. Jetzt sagen Sie: Schon mit Hetzern, wenn sie den Kriterienkatalog erfüllen?
Wer hetzt und ausgrenzt, kann kein Partner für uns sein. Das wird im Kriterienkatalog stehen. Aber auch die moderaten rechten Parteien haben sich aus der Mitte wegbewegt.