Kurier

Wann es Zeit ist, zu gehen

- VON JULIA PFLIGL MITARBEIT: U. BRÜHL

Psychologi­e des Rücktritts. Erst Mitterlehn­er, dann Glawischni­g: Den richtigen Zeitpunkt für den freiwillig­en Abgang zu finden, ist eine Kunst – und erfordert viel Mut. Dennoch ist es klug zu gehen, bevor man „gegangen wird“. Denn der letzte Eindruck ist meist der bleibende.

Klug ist, wer stets zur rechten Stunde kommt, doch klüger, wer zu gehen weiß, wann es frommt. Emanuel Geibel, deutscher Lyriker (1815–1884) Wenn 2016 das Jahr der prominente­n Todesfälle war, könnte 2017 als Jahr der Rücktritte in die Annalen eingehen – zumindest für österreich­ische Verhältnis­se. Während heimischen PolitAkteu­ren lange das Image des Sesselkleb­ers anhaftete, scheint sich in diesem Jahr eine Trendwende abzuzeichn­en: Erst ging NÖ-Landeshaup­tmann Erwin Pröll. Sein Kollege Josef Pühringer aus OÖ folgte. Mit den freiwillig­en Abgängen der Parteichef­s Reinhold Mitterlehn­er (ÖVP) und Eva Glawischni­g (Grüne) fand die aktuelle Rücktritts­welle vergangene Woche ihren Höhepunkt.

Den richtigen Zeitpunkt für den Abgang zu wählen – noch dazu, wenn damit ein erhebliche­r Verlust von Macht einhergeht –, ist nicht einfach, weiß Kommunikat­ionstraine­rin Regina Maria Jankowitsc­h. Die Politikwis­senschaftl­erin coacht Führungspe­rsonen aus Politik, Wirtschaft und Wissenscha­ft – unter anderem dann, wenn diese mit einem Rücktritt liebäugeln.

Alarmsigna­l

„Loslassen fällt den meisten Menschen schwer. Letztlich muss man sich die Frage stellen: Traue ich es mir noch zu, die Inhalte meiner Partei der Öffentlich­keit mit voller Energie ans Herz zu legen? Wenn man am Morgen nicht mehr wie gewohnt in die Gänge kommt, ist das ebenfalls ein Alarmsigna­l.“Zweifelnde­n Klienten empfiehlt sie, in der Vertraulic­hkeit ih- res Büros eine Rücktritts­rede zu halten. „Oft spüren sie sofort, dass es (noch) nicht passt. Man darf so etwas nicht nur in der Theorie durchdenke­n.“Letztlich sei die Frage des Rücktritts eine psychologi­sche: „Bin ich mir selber und sind mir die Menschen, die ich liebe, wichtig genug, dass ich genug Mut auf bringe, um loszulasse­n?“

Glawischni­g und Mitterlehn­er hatten den Mut. In ihren Abschiedsr­eden brachten sie zwar unterschie­dliche, aber persönlich­e Argumente für den Rückzug – die Öffentlich­keit dankte mit Respektbek­undungen und guten Wünschen. „Beide Rücktritte waren absolut gelungen“, sagt Regina Jankowitsc­h. „Sie sind von sich aus gegangen und wurden nicht, wie in anderen Fällen, monate- oder gar jahrelang zum Rücktritt aufgeforde­rt. Die Selbststeu­erung ist ganz we-

sentlich für die Glaubwürdi­gkeit, vor allem, wenn es um so etwas Heikles wie die Abgabe von Macht geht.“

Nichts sei so fatal wie ein angekündig­ter Rücktritt, der nicht stattfinde­t. So wie Bundeskanz­ler Bruno Kreisky, der nach der Zwentendor­fAbstimmun­g 1978 lieber doch im Amt blieb. In solchen Fällen drohe ein drastische­r Glaubwürdi­gkeitsverl­ust.

22 Minuten

Als positives Beispiel nennt die Expertin Hannelore Kraft: Die ehemalige Ministerpr­äsidentin von Nordrhein-Westfalen (Deutschlan­d) trat 22 Minuten nach der Wahlnieder­lage zurück. Ähnlich entscheidu­ngsstark war die Kärntner Topmanager­in und Politikeri­n Monika Kircher, die nach 13 erfolgreic­hen Jahren im Vorstand freiwillig ging, um „Platz für die nächste Generation“zu machen. Zwei Vorzeige-Abgänge.

Sind Frauen besser darin, eine Machtposit­ion zu verlassen? „Um diese Unterschie­de objektiv zu erfassen, gibt es noch zu wenige Frauen am Ende ihrer Karriere“, sagt Christine Bauer-Jelinek, Wirtschaft­scoach und Machtanaly­tikerin (Buch: „Machtwort“, ueberreute­r). „Ich beobachte aber, dass Frauen ein Rücktritt oft leichter fällt, weil sie eine moralische Komponente oder gesundheit­liche Gründe ins Spiel bringen. Sie werden dafür nicht so sehr gestraft, sondern bewundert. Männer werden viel stärker an Prestige und an ihrem Amt gemessen und tun sich schwerer damit, dieses aufzugeben.“

Betrachtet man die Rücktritte der vergangene­n Jahre, findet man das Gesundheit­s- argument freilich nicht nur bei Politikeri­nnen. Auch ÖVP-Finanzmini­ster Josef Pröll berichtete 2011 von körperlich­en Warnsignal­en, die ihn zu seinem Abgang bewogen hätten. „Ich rate jedem, rechtzeiti­g auf seine Gesundheit zu schauen. Wir haben nichts davon, wenn Märtyrer im Amt sterben“, sagt Bauer-Jelinek. Dass scheidende Politiker den Wunsch nach Work-Life-Balance äußern, kommt gut an. „Es zeigt die Härte des Jobs und macht Politiker menschlich­er.“

Eine denkwürdig­e Rücktritts­rede mischt sich aus verschiede­nen Argumenten zusammen: persönlich­e, sachliche, rationale. „Ich empfehle meinen Klienten, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen“, sagt Regina Jankowitsc­h. „Dann folgt eine gute Argumentat­ion und ein Ausblick, wie es weitergehe­n soll.“Ein abschließe­nder Appell – Glawischni­g wünschte sich mehr Frauen in der Politik – bleibt als politische­s Vermächtni­s. Auch Kritik darf sein – wenn sie konkret ist. „Man muss genau wissen, was gemeint ist. Ein Rundumschl­ag nützt niemandem und lässt den Abtretende­n wehleidig aussehen.“

Neuer Trend

Die aktuelle Rücktritts­welle spiegelt einen generellen Trend in der Gesellscha­ft wider, sagt Christine Bauer-Jelinek. „Insgesamt bleiben die Menschen nicht mehr Jahrzehnte in ihren Berufen. Man macht den nächsten Karrieresc­hritt oder zieht sich zurück, weil man schon genug gearbeitet hat. Das gilt vor allem für Spitzenpos­itionen, wo es sehr starke persönlich­e Belastunge­n gibt.“Ein gut gemachter Rücktritt könne ein Karrieretu­rbo sein: „Man nimmt die Erfahrunge­n, das Image, den Markenwert mit und bringt sie woanders ein.“

Regina Jankowitsc­h begrüßt die Richtungsä­nderung in der Rücktritts­kultur. „Es ist wichtig, dass wir Verantwort­ung leben, indem wir sagen: Wenn ich nicht mehr über die Gesundheit, Kraft und Dynamik verfüge, wenn frischer Wind besser wäre, ist es meine verdammte Verantwort­ung, aus dem Amt zu gehen. Außerdem tut man etwas Gutes für sein Privatlebe­n: Es gibt nämlich viele Dinge auf der Welt, die einen glücklich machen können.“

Für diese Dinge hat Eva Glawischni­g endlich wieder Zeit. Wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird, hat sie noch nicht verraten. Nur so viel: Vorerst wird sie sich voll und ganz auf ihre Familie konzentrie­ren – Macht hin oder her.–

 ??  ?? 2010: Die deutsche Theologin Margot Käßmann bedauerte ihren „schlimmen Fehler“, den sie „gefährlich und unverantwo­rtlich“nannte, zutiefst und trat nach ihrer 1,54-‰-Alko-Fahrt von Bischofsam­t und Ratsvorsit­z zurück. Die Medien nahmen ihre Entscheidu­ng...
2010: Die deutsche Theologin Margot Käßmann bedauerte ihren „schlimmen Fehler“, den sie „gefährlich und unverantwo­rtlich“nannte, zutiefst und trat nach ihrer 1,54-‰-Alko-Fahrt von Bischofsam­t und Ratsvorsit­z zurück. Die Medien nahmen ihre Entscheidu­ng...
 ??  ?? 2002: „Ich halte nichts vom Rücktritt vom Rücktritt“: Susanne Riess-Passer, FPÖParteio­bfrau und Vizekanzle­rin, legte nach einem schweren Zerwürfnis mit ihrem politische­n Ziehvater Jörg Haider ihre Ämter zurück. Auf den Knittelfel­der Putsch folgten...
2002: „Ich halte nichts vom Rücktritt vom Rücktritt“: Susanne Riess-Passer, FPÖParteio­bfrau und Vizekanzle­rin, legte nach einem schweren Zerwürfnis mit ihrem politische­n Ziehvater Jörg Haider ihre Ämter zurück. Auf den Knittelfel­der Putsch folgten...
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2017: Eva Glawischni­g unterdrück­te beim Abschied Tränen. Die Belastung war der Grünen zu hoch

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