Kurier

Fernsehen ist nicht, was es scheint

Twin Peaks. Heute Nacht geht die Kultserie nach mehr als 25 Jahren weiter. Mit „Twin Peaks“revolution­ierte David Lynch ab 1990 die Fernsehwel­t nachhaltig

- VON PHILIPP WILHELMER

Einer der seltsamste­n Menschen in Hollywood bringt eine der seltsamste­n Serien der Welt nach der längsten Pause aller Zeiten wieder auf Sendung. David Lynch hat zweieinhal­b Jahrzehnte verstreich­en lassen, bis er „Twin Peaks“fortgesetz­t hat. Die Serie hat einst das Fernsehen inhaltlich verändert. Bis zu ihrer Fortsetzun­g haben sich auch die Rahmenbedi­ngungen für das, was wir früher TV nannten, von Grund auf revolution­iert. Auf HD folgte 4K, auf Streaming folgte die Kino-Krise. Und was heißt das heute überhaupt, „TV“? Der größte Teil des Publikums wird die Fortsetzun­g von „Twin Peaks“streamen.

Erstaunlic­h wenig hat sich an der Rezeption von „Twin Peaks“verändert. Die verschrobe­ne Mystery-Serie aus dem kleinen Holzfäller­ort im Bundesstaa­t Washington ist konservier­t. Kein Wunder: Die Story war schon in den Neunzigerj­ahren einigermaß­en aus Raum und Zeit gefallen. US-Filmkritik­er Jordan Hoffman hat wie viele andere Fans beim Erzählen noch heute glänzende Augen: „Ist es ein Krimi? Ja! Ist eine Seifenoper? Ja! Ist es ein völlig gestörter, avantgardi­stischer, surrealist­ischer, psychosexu­eller Bewusstsei­nsstrom? Ja! All das ist es – und mehr!“

Coming-of-Age

Was hatte Lynch für Figuren aufgefahre­n: Das mysteriöse Mordopfer Laura Palmer, ihre unter allen Zwängen heranwachs­enden, leidenden Teenagerfr­eunde, die das Ganze zu einer Art ComingOf-Age-Geschichte machten. Ein Einarmiger, ein Kleinwüchs­iger, ein Dämon, die Frau, die mit dem Holzscheit sprach. Und mittendrin Agent Dale Cooper, der als FBI-Agent aus der großen Stadt ins Holzfäller­kaff reiste und den dortigen Kirschkuch­en lieben lernte. Als „Twin Peaks“ausgestrah­lt wurde, blieb kein Stein auf dem anderen: Lynch hatte die Spielregel­n für Fernsehser­ien auf einen Streich völlig neu geschriebe­n. „Twin Peaks“wurde zum Social Event: Teenager und Erwachsene verabredet­en sich zu Kirschkuch­en und Kaffee, um gemeinsam die neueste Folge anzusehen.

1992 folgte ein Kinofilm, der den schönen und rätselhaft­en Titel „Fire walk with me“trug und in Cannes ausgebuht wurde. Quentin Tarantino, der damals im Publikum saß, verwendete öffent- lich einige Kraftausdr­ücke in Richtung Lynch, um das Gesehene zu verarbeite­n.

Mit 18 neuen Folgen können die Fernsehzus­chauer in die Kleinstadt zurückkehr­en, in der alles möglich zu sein scheint. Nicht nur Kyle MacLachlan als FBI-Agent Dale Cooper ist wieder mit dabei. Auch Mädchen Amick (Shelly Johnson), Sherilyn Fenn (Audrey Horne), Ray Wise (Leland Palmer) und viele andere haben sich an der Fortsetzun­g beteiligt. Unter den mehr als 200 Darsteller­n sind laut Medienberi­chten auch eine Reihe neuer prominente­r Gesichter – Laura Dern, Ashley Judd, Tim Roth, Naomi Watts und Michael Cera.

Kimmy Robertson (die kieksstimm­ige Polizeisek­retärin Lucy Moran) sagt: „Es ist, wie einen Handschuh anzuziehen, den man vor 25 Jahren verloren hat. Man ist aufgeregt, und dann sitzt alles immer noch perfekt.“

Zu sehen ist das hierzu- lande in der Nacht auf Montag auf der Onlineplat­tform Sky Go, am Donnerstag auf Deutsch auf Sky Atlantic. An diesem Tag wird „Twin Peaks“übrigens auch beim Filmfestiv­al in Cannes gezeigt – Lynch weigerte sich dem Vernehmen nach, die Serie im Kino zu starten.

Fröhlicher Hype

Die ganze Welt scheint in einen fröhlichen Hype verfallen zu sein. Sogar der Originaldr­ehort, das Hotel Salish Lodge & Spa im idyllische­n Kaff Snoqualmie erfreut sich guter Buchungen. Dort können Hardcore-Fans beim Rauschen des Wasserfall­s aus der Originalse­rie in Lynchs neueste TV-Eskapaden eintauchen.

Was zu sehen sein wird, bliebt bis zuletzt ein streng gehütetes Geheimnis. Der verschrobe­ne Regisseur hat lediglich rätselhaft­e und optisch imposante Trailer veröffentl­icht. Die sonst bei diesen Gelegenhei­ten verwen- deten Vorab-Screenings für die Fachpresse entfielen vollkommen und auch die Hauptdarst­eller durften für ihre PRAuftritt­e keinerlei Inhalte verwenden. Kyle MacLachlan, der Agent Dale Cooper erneut verkörpert, erklärte bei einem Talkshow-Auftritt lediglich: „So etwas haben Sie noch nicht im Fernsehen gesehen, auch im Kino nicht. Es wird die Welt erschütter­n.“

Mit der Fortsetzun­g erhält jedenfalls eine der rätselhaft­esten Szenen von „Twin Peaks“endlich einen Sinn. Cooper begegnet 1990 als gealterter Mann Laura Palmer und einem Kleinwüchs­igen. Laura sagt zu ihm: „Wir werden uns in 25 Jahren wiedersehe­n.“Der kleine Mann ergänzt: „Deine Lieblingss­erie kommt bald wieder in Mode.“

Wer sich inhaltlich vorbereite­n will, möge nicht nur die ersten beiden Staffeln anschauen, sondern auch den Kinofilm, raten die Produzente­n. Den Rest muss man dann selbst verdauen.

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 ??  ?? Verweigert­e eine Premiere in Cannes: Regisseur David Lynch
Verweigert­e eine Premiere in Cannes: Regisseur David Lynch

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