Kurier

Die Weichteile unserer Gesellscha­ft Cannes.

Noch kein klarer Favorit, aber Ruben Östlunds fast geniale Kunst-Milieu-Satire „The Square“sticht heraus

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„Toni Erdmann“gab es heuer noch keinen. Zwar geht das Filmfestiv­al von Cannes am Wochenende ins Halbfinale, doch ein so klarer Favorit wie im letzten Jahr Maren Ades Vater-Tochter-Porträt zeichnet sich noch nicht ab. Und Hanekes „Happy End“muss noch gezeigt werden.

Nimmt man die Lautstärke an Buh-Rufen als Gradmesser, lassen sich zumindest die bisher unbeliebte­sten Filme bestimmen. Kornél Mundruczós magisches Flüchtling­sdrama „Jupiter’s Moon“beispielsw­eise stieß auf wenig Gegenliebe. Der Regisseur spitzte seine Kritik an autoritäre­r ungarische­r Politik und dem inhumanen Umgang mit Flüchtling­en zu einer hyperreali­stischen Action-Fingerübun­g zu: Ein syrischer Flüchtling wird angeschoss­en und kann darauf hin fliegen. Bei seinem Anblick beginnt seine Umgebung an Wunder zu glauben. Eigentlich eine originelle Idee, mit der Mundruczó aber den Rest seines Filmes bestreitet und trotz visueller Brillanz erzähleris­ch nicht weiterkomm­t.

Gebuht wurde auch während „Okja“, dem ersten Netflix-Film des Wettbewerb­s – allerdings nicht, weil er von dem umstritten­en Streamingd­ienst stammte, sondern weil er im falschen Format gezeigt wurde und Tilda Swinton auf der Leinwand den Kopf abschnitt.

Geweint wurde während des Aids-Melodrams „120 Battements par Minute“des Franzosen Robin Campillo. Wie aus dem Lehrbuch erzählt Campillo die Geschichte von ACT-UP-Aktivisten in Paris, die sich in den 80er Jah- ren für die Sichtbarma­chung von Aids engagierte­n. Campillo versammelt­e ein starkes Schauspiel-Ensemble, deren sensiblem Spiel er die besten Momente seines Message-Movies verdankt. Er- zählerisch geht er aber höchst konvention­ell vor. Selbst das Drama um einen sterbenden jungen Schwulen kann trotz intensiver Momente das Lehrstückh­afte nie abwerfen.

Als Befund unserer Ge- genwart lieferte der Schwede Ruben Östlund die bisher genialste Arbeit. Östlund hatte bereits mit „Höhere Gewalt“– über einen Vater, der bei drohendem Lawinenabg­ang sein Handy rettet, nicht aber seine Familie – eine beißende Satire auf Geschlecht­errollen entworfen. Mit „The Square“reißt er ungleich mehr Themen auf – mit unterschie­dlichem erzähleris­chen Erfolg, immer aber auf höchstem Denkniveau: Christian, Chef-Kurator eines Kunstmuseu­ms in Stockholm, muss während der Werbekampa­gne für eine Ausstellun­g unerwartet­e Niederlage­n einstecken.

Samenraub

Österlunds Treffsiche­rheit in die Weichteile unserer zunehmend misanthrop­en Gesellscha­ft ist maximal. Nach einem One-Night-Stand will Christian der Frau, mit der er gerade im Bett war, das gefüllte Kondom nicht überlassen. Der Vorwurf von Samenraub steht im Raum. Beide reißen an dem Gummi, der sich gefährlich dehnt. Dieses Bild ist gleicherma­ßen bizarr, komisch und alarmieren­d: Misstrauen statt Erotik, Kontrolle statt Exzess. Gut möglich, dass das Jury-Präsident Pedro Almodóvar gefällt.

 ??  ?? Starke Schauspiel­er, schwacher Film: „120 Battements par Minute“von Robin Campillo erzählt von den Aids-Aktivisten ACT UP in Paris
Starke Schauspiel­er, schwacher Film: „120 Battements par Minute“von Robin Campillo erzählt von den Aids-Aktivisten ACT UP in Paris

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