Wo das Glück wohnt
Expedition. Ein Mann brach auf, um herauszufinden, ob das Tsum-Tal wirklich jenes Paradies im Himalaja ist, von dem so viele fantasieren. Jetzt erzählt Titus Arnu, was er auf dieser Suche erlebte
„Wenn man unglücklich ist, findet man auch auf einem weichen Sofa keinen Schlaf. Wir sind hier so glücklich, dass wir auch auf einem Felsen schlafen können.“
Irgendwo im Himalaja, zwischen Sechs- und Siebentausendern, liegt das TsumTal. Es wird Tal des Glücks genannt. Wer dorthin möchte, muss trittfest, konditionsstark und schwindelfrei sein. Denn der Weg in das Tal führt durch tiefe Schluchten und gilt als gefährlich. Erst im Jahr 2008 wurde es für Touristen geöffnet. Die dort in völliger Abgeschiedenheit lebenden Menschen waren lange Zeit von jeglichem Fortschritt abgeschnitten – selbst von den so mächtigen Nachbarn China und Indien blieben sie weitgehend unberührt. Die Tsumba
(so nennen sich die Einwoh
ner des Tals) haben sich verpflichtet, auf Gewalt zu verzichten, leben nach buddhistischer Tradition, Frauen können mehrere Männer heiraten. Der deutsche Autor und Journalist Titus Arnu ist aufgebrochen, um das Leben im Tsum-Tal zu erkunden. Darüber hat er nun ein Buch geschrieben. Im Interview erzählt er, wie sehr ein Aufenthalt dort tatsächlich glücklich macht. KURIER: Wie kamen Sie auf die Idee, diese beschwerliche Reise ins abgelegene Tsum-Tal, das Tal des Glücks, zu tun? Titus Arnu: Ich war vor drei Jahren schon in Nepal und habe dort Trekking um den Manaslu gemacht, einen der Achttausender im Himalaja. Da bin ich an dem Tal vorbeigekommen. Unser Guide meinte, ich solle in dieses Tal gehen, weil es dort praktisch kein Tourismus gebe. Es sei nochmals etwas ganz anderes, dieses „Tal des Glücks“. Das klingt nach Paradies und Sozialromantik. Wie ist es dort wirklich?
Ich bin weder naiv noch sozialromantisch. Trotzdem ist es so, dass mich das sehr berührt hat. Ich gehe in ein Tal, das wirklich am Ende der Welt liegt, auf 4000 Meter. Es gibt dort keine Autos, kein Internet – nichts, was wir unter Zivilisation verstehen. Da gehe ich schon verändert heraus. Vor allem die Natur hat mich berührt, und die Spiritualität der Menschen. Man spürt, dass sie anders leben und anders denken, sie sind sehr geerdet und gleichzeitig sehr spirituell. Es gibt viele Einschränkungen, etwa bitterste Armut, die Menschen sind großteils ungebildet, wenn sie nicht im Kloster aufgewachsen sind. Und es gibt, wie überall auf der Welt, Streit. Und auch Eifersucht. Frauen können dort mit mehreren Männern verheiratet sein?
Richtig, man nennt das Polyandrie. Das klingt aus westlicher Sicht erst einmal abenteuerlich und interessant. Aber es ist aus der Not geboren. Es hat soziale Hintergründe. Man fragt sich oft: Wo sind denn die ganzen Frauen? Viele von ihnen sind im Kloster. Es gibt ein Frauenkloster, da sind 90 Mädchen bis Greisinnen drinnen. Alle Frauen aus dem Tal, die in der Familie keinen Platz mehr haben und nicht versorgt werden könnten. Insgesamt gibt es etwa 400 Nonnen und Mönche im Tal.
Sie beschreiben diese Nonnen als besonders positiv und fröhlich.
Was ich erlebt habe, war natürlich nur ein kleiner Ausschnitt. Aber man hat als Mädchen dort die Chance, entweder zu heiraten, einen Hof zu erben und Bäuerin zu sein. Oder man geht weg in ein Kloster. Bis vor ein paar Jahren gab es auch noch keine öffentlichen Schulen, das hat sich nun geändert. Was bedeutet Glück für Sie – vor und nach der Reise?
Ich beziehe das auch auf meinen ersten Aufenthalt dort, das war fast noch ein größerer Einschnitt, weil ich länger und zum ersten Mal dort war. Es ist dieses völlig aus der Welt sein, man ist raus aus dem Nachrichtenwahnsinn, weg von Facebook und den vielen Einflüssen, die man Tag für Tag im Sekundentakt bekommt. Man denkt immer, das sei wichtig und man nicht davon abgehängt sein. Wenn man das aber ist, wird klar, dass man wenig verpasst. Da gibt es dann wieder den Blick für andere Dinge. Für Gespräche, etwa – ich war da mit einem sehr guten Freund. Wir haben uns stundenlang auf der Wanderung unterhalten. Da wird der Kopf frei. Wir haben erst Tage später mitgekriegt, dass Donald Trump Präsident wurde. Das hätte ich dann lieber nicht gewusst. Da wären Sie lieber dort geblieben?
Eigentlich schon (lacht). Aber nicht länger als ein, zwei Monate. Ich finde, es relativiert viel, wenn man dort ist. Wie die Leute dort leben, in welch bittererer Armut und was für sie Wohlstand bedeutet. Ich bin jetzt nicht so, dass ich sage, zurück zur Steinzeit, weil da war alles besser. Im Gegenteil, die haben auch sehr viel Leid. Zum Beispiel die medizinische Versorgung: Wenn ich da Krebs habe – Pech gehabt. Wenn ich stolpere und meine offene Wunde ent- zündet sich, auch Pech gehabt. Da gibt es nicht die Möglichkeit, mal schnell zum Notarzt zu gehen. Ist es Fatalismus oder ist das dem Buddhismus geschuldet?
Beides. Das geht Hand in Hand. Wo man an Wiedergeburt glaubt, hat der Tod einen anderen Stellenwert. Er wird dort nicht so tragisch bewertet. Sie sagen, dass die Bewohner des Tals zufrieden sind, trotz Armut. Es fehlt ihnen aber an Vergleich. Würde sich etwas verändern, wenn man diese Menschen etwa in die Alpen „verpflanzt“?
Auf jeden Fall. Ich habe jemanden getroffen, der aus dem Tal kommt. Der Mann lebt jetzt im Allgäu. Nachdem die Region Tsum geöffnet wurde, war er zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder dort. Er meinte, er könnte nie im Leben wieder zurück. Es ist ihm zu sehr aus der Welt. Der ist jetzt nicht Bankmanager geworden, er ist Yogalehrer. Wie ging es Ihnen, als Sie zurückgekommen sind? War da ein Schock?
Was ein Schock ist, ist Kathmandu. Das ist eine riesige, staubige und anstrengende Stadt, die ziemlich verslumt ist. Die Erkenntnis so einer Reise ist, dass man das Leben hier wieder zu schätzen weiß. In welchem Luxus wir leben, welch ein Glück wir haben, dass wir in diesem Teil der Welt geboren sind. Wir haben politisch, trotz AfD in Deutschland oder nationalistischen Einflüssen in anderen Ländern, immer noch Meinungsfreiheit, Demokratie. Wir haben Wohlstand. Wird das Prinzip der Gewaltlosigkeit dort wirklich gelebt?
Ja, insofern, als dort keine Tiere getötet werden, zumindest nicht absichtlich. Es gibt aber Tricks. Wir haben einen Mann getroffen, der hatte in seinem Rucksack eine halbe Ziege und wir haben ihn gefragt, was er damit macht, und ob er nicht Vegetarier sei. Er sagte, er hätte sie aus Tibet. Man kann von dort aus nach Tibet laufen, über einen 5200 m hohen Berg, ein alter Handelsweg. Einige Leute kaufen dort Dörrfleisch, getrocknete Ziegenbeine und Schafsteile oder tauschen das gegen etwas. Das wird für Suppen oder Eintöpfe verwendet – vor allem im Winter. Aus Überlebensgründen, weil es im Winter kaum Proteine gibt. Die moralische Rechtfertigung dafür ist, dass das Tier nicht in dem Gebiet getötet wurde, sondern schon tot war. Und wenn ein Tier gefährlich ist, wird es dann in Notwehr ebenfalls nicht getötet?
Also wir haben schon Waffen gesehen. Das war in einem Laden, da gab es chinesische Produkte, auch Gewehre oder Macheten. Da habe ich gefragt, wofür die sind, wenn nicht gejagt wird. Sie sagten dann, das sei für den Notfall. Es gibt auch Geschichten von Mord und Totschlag unter Menschen, aber sie reden da nicht so gerne darüber. Gibt es dort ein Gefängnis?
Nein, gibt es keines. Auch keine Polizeistation. Es gab mal einen Polizisten fürs ganze Tal, der wurde aber nicht akzeptiert und hatte nichts zu tun. Der Polizeiposten wurde wieder geschlossen. Wenn es Streitfälle gibt, wird das vor einer Art Dorfgericht gemacht – mit dem Ältestenrat. Nun dürfen auch Touristen ins Tal des Glücks. Ist das eine Gefahr für die Menschen und das Tal?
Ja und nein. Ich denke, dass die Leute, die da hingehen, eher bewusst und rücksichtsvoll sind. Alleine dadurch, dass man große Anstrengungen unternehmen muss, um dorthin zu kommen. Man kann da ja nicht mit dem Bus hinfahren und eine Tageswanderung machen.
Die größere Gefahr sehe ich in der wirtschaftlichen Entwicklung von China her. Was man positiv und negativ deuten kann. Es ist auch eine Chance, weil die Chinesen sehr daran interessiert sind, eine Straße hineinzubauen. Sie haben von Tibet aus damit schon angefangen. Da gibt es mehrere Projekte in diese Richtung und das weltweit größte Potenzial an Wasserkraft.
Die größten asiatischen Flüsse – alle vier entspringen im Himalaja – sollen genutzt werden, um China und Indien mit Strom zu versorgen. Das zerstört natürlich viel, angefangen von der Natur bis hin zur Lebensweise der Menschen. Andererseits bringen Straßen und Elektrizität auch Vorteile. Die Versorgung wird einfacher, das Essen wird billiger. Es gibt die Möglichkeit, zum Arzt in die Stadt zu fahren, die Kinder können in die Schule gehen, ohne dass sie ein Jahr lang von der Familie weg sind. Wir haben dort auch viele Stimmen gehört, die meinten: Ja, warum nicht? Wir möchten auch so leben wie die Menschen im Rest der Welt. Sie haben beobachtet, dass dort viel zusammengeholfen wird, es
ein hohes Maß an Solidarität gibt. Es wird viel getauscht.
Der Tausch ist bis in die Jetztzeit hinein die sinnvollste Möglichkeit gewesen. Denn es gibt nur sehr begrenzt bestimmte Nahrungsmittel, die da wachsen. Weiter unten gibt es Reis und Tee, oben nicht. In Tibet gibt es Salz und verschiedene andere Dinge. Das Teilen der Aufgaben in der Dorfgemeinschaft wird bis heute praktiziert, da es am sinnvollsten ist. Es gibt keine Landmaschinen, die schnell ein Getreidefeld abernten. Da muss man zu zehnt Hirsekörner pflücken und herauspulen. Ohne Zusammenarbeit geht das nicht. Was haben Sie aus dem Tal des Glücks in den Alltag mitgenommen?
Ich sitze hier im Garten bei mir, habe vier große Gebetsfahnen quer durch den Garten gespannt, die ich von dort mitgenommen habe. Das erinnert mich daran. Ich versuche , sehr naturnah, so weit das bei uns im Alltag überhaupt geht, und umweltfreundlich zu leben. Sind Sie ruhiger geworden?
Ich war schon immer recht ruhig. Aber die Reise ins Tal des Glücks hat mich noch mehr geerdet, auch durch den ersten Aufenthalt vor drei Jahren. Ich bin seitdem tatsächlich ruhiger, zufriedener und glücklich – sagen mir auch Freunde. Und ich war seitdem kein einziges Mal krank. Ich hatte nicht mal Schnupfen.