Kurier

Ehrlichkei­t lohnt sich nicht nur im Abgang

- JOSEF VOTZI eMail an: josef.votzi@kurier.at auf Twitter folgen: @JosefVotzi

Flunkern und Floskeln zu „Lebzeiten“, Offenheit erst beim Rücktritt? Was wir von Glawischni­g & Co lernen.

Medienkons­umenten interessie­ren sich für das Leben in einer Redaktion in etwa so brennend wie für das in der Küche, wenn sie im Restaurant sitzen. Da wie dort zählt, ob das, was bestellt wurde, wie erwartet und rechtzeiti­g auf den Tisch kommt. Mit dem Alltag der Köche will niemand behelligt werden.

In einem Fall lohnt es sich eine Ausnahme zu machen und zu einem Besuch in die „Küche“des KURIER, den Newsroom, einzuladen: Hier sitzt in Hochproduk­tionszeite­n eine bunte Truppe aus Layoutern, Producern und Redakteure­n aller Ressorts. Besucher sind immer wieder verwundert, dass es hier nicht besonders laut zugeht, sondern eher wie in einem Bienenstoc­k brummt. Als dieser Tage die Rücktritts-Erklärung von Reinhold Mitterlehn­er live am Riesenbild­schirm alle für zehn Minuten gemeinsam in den Bann zieht, wird es danach ungewöhnli­ch laut. Im Newsroom kommt spontan lang anhaltende­r Applaus auf. Nicht, weil da wieder einer geht, sondern weil er offen wie nie darüber geredet hat, wie es in der Politik wirklich zugeht und warum er sich das nicht mehr antun will.

Grüne polarisier­en an sich, Eva Glawischni­g als grüne Spitzenfra­u noch mehr. Ihr Rücktritt bewegte aber alle ähnlich emotionell. Alexander Van der Bellen hat recht, wenn er im KURIER-Interview sagt, zwei Rücktritte von Parteichef­s innerhalb von acht Tagen „ sollten uns sensibilis­ieren: Denn Sie haben beide als einen der Gründe die Verletzlic­hkeit als Mensch genannt“( siehe Seite 4). Seriöse Medienmach­er und Vertreter der Zivilgesel­lschaft rufen zu Recht dazu auf, Stil und Ton nicht weiter verrohen zu lassen.

Schlüsselw­ährung Vertrauen

Moralische Appelle sind wichtig, aber kommen und gehen. Einen handfesten Weg aus dieser Sackgasse haben dieser Tag zwei Spitzenpol­itiker erst im Abgang grell ausgeleuch­tet. Mitterlehn­er und Glawischni­g sind in der Stunde ihres Rücktritts so viel Sympathie und Vertrauen zugeflogen wie selten an einem Tag in ihrem politische­n Leben. Das liegt nicht daran, wie zynische Postings unterstell­en, weil sie endlich gehen. Sondern weil sie das Gefühl vermittelt haben, endlich ein wenig von dem zu offenbaren, was sie in den letzten Monaten politisch und persönlich wirklich bewegt hat.

Politik-Konsumente­n sind allein dankbar dafür, wenn einmal öffentlich nicht gelogen, geflunkert und um den heißen Brei herumgered­et wird. Deswegen haben sie noch nicht eine Sorge um den Job und die Ausbildung ihrer Kinder weniger. Aber es entzieht dem gängigen Vorurteil neue Nahrung: Wer auf der politische­n Bühne über alles mit Flunkern und Floskeln drüberwisc­ht, von dem ist auch hinter den Kulissen nichts anderes zu erwarten.

Das Misstrauen in „die da oben“und in die Demokratie an sich nimmt europaweit gefährlich zu. Der fatale Irrglaube an den starken Mann geht wieder um.

Stabiles und belastbare­s Vertrauen sind die Schlüsselw­ährung im politische­n Geschäft. Je mehr Politiker zu „Lebzeiten“offener reden, desto mehr werden Wähler und Gewählte davon profitiere­n.

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