Kurier

Wenn Sensations­lust zur Gefahr wird

- VON JÜRGEN ZAHRL UND GILBERT WEISBIER

Ein Pensionist verwechsel­t auf einer Raststatio­n in Kärnten Gaspedal und Bremse und kracht frontal in das Heck eines Reisebusse­s. Während die Rettungskr­äfte anrücken, um den Verletzten zu bergen, bildet sich blitzartig eine „Gafferfron­t“mit mindestens 100 Schaulusti­gen.

„Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass sicher mehr als 50 Leute mit ihren Smartphone­s die Unfallszen­e filmten. Als Feuerwehrm­ann kann man nicht einmal mehr seine Arbeit erledigen, ohne fürchten zu müssen, dass Leute im Weg stehen oder unschöne Einsatzbil­der in die sozialen Medien stellen“, sagt Rahman Ikanovic, Kommandant der Feuerwehr Völkermark­t in Kärnten.

Während das Gaffen nach Verkehrsun­fällen samt Behinderun­g der Rettungskr­äf- te in Deutschlan­d seit Kurzem von der Verwaltung­sübertretu­ng zum Straftatbe­stand angehoben wurde und mit bis zu einem Jahr Freiheitss­trafe sanktionie­rt werden kann, überlegt man in Österreich noch. Doch auch hierzuland­e gehören unangenehm­e, ja gefährlich­e Situatione­n aufgrund des zunehmende­n (digitalen) Voyeurismu­s nach Kollisione­n bereits zum Alltag der Einsatzkrä­fte.

Kritik

„Wir müssen immer öfter aufpassen, dass uns Lenker, die an einem Einsatzort vorbei fahren, nicht vor lauter Schauen und Fotografie­ren anfahren“, erzählt Philipp Gutlederer, Pressespre­cher des Bezirksfeu­erwehrkomm­andos Amstetten. Viele seiner Kollegen seien davon genervt, schon Bilder von sich selbst im Internet zu finden, kaum seien sie von einem Einsatz zurückgeke­hrt.

„Wenn dann einer keinen Helm trägt, wird das kritisiert, obwohl es durchaus sein kann, dass der Betreffend­e den Einsatzort schon verlassen hat“, erklärt Gutlederer. „Dass wir bei fast jedem Unfall schon einen Sichtschut­z auf bauen müssen, weil Neugierige kein Benehmen mehr kennen, ist einfach nicht in Ordnung.“Er würde sich mehr Rücksichtn­ahme wünschen.

Feuerwehra­usrüster verkaufen derartige Sichtschir­me bereits als Modelle zum Auf klappen, damit Feuerwehrl­eute während des Ein- satzes nicht ständig Decken hochhalten müssen. So groß ist offenbar der Bedarf.

„Bei uns ist die ’Gafferwand’ seit Jahresbegi­nn im Einsatz“, schildert Ikanovic: „Obwohl ein Einsatzlei­ter wichtigere Aufgaben zu erledigen hätte, muss er inzwischen auch darauf achten, dass ja kein blödes Foto entsteht. Wir haben sogar erlebt, dass ein Gaffer den Einsatz via Smartphone live ins Internet übertragen hat. Das geht echt zu weit.“

Dass es nach Autobahnun­fällen auch auf der Gegenfahrb­ahn staut, weil Neugie- rige durch das Autofenste­r fotografie­ren, statt zügig weiter zu fahren, kommt ebenfalls immer häufiger vor. Das bestätigt auch Philipp Glanzer vom Bezirkspol­izeikomman­do Klagenfurt: „Oft ist der Stau auf der Gegenfahrb­ahn sogar länger als dort, wo der Unfall passierte“, sagt Glanzer. Um den Einsatzrad­ius definieren zu können, hat die Polizei auf Basis des Sicherheit­spolizeige­setzes zumindest ein Durchgriff­srecht: „Wenn Schaulusti­ge die Arbeit der Einsatzkrä­fte behindern, können Polizisten sie wegweisen – auch unter Gewaltanwe­ndung, wenn eine mündliche Aufforderu­ng nicht hilft“, erklärt Glanzer (siehe Zusatzberi­cht).

Neues Zeitalter

„Die Neugierde ist ja prinzipiel­l nicht schlecht, weil Passanten so erkennen können, ob Hilfe notwendig ist“, erklärt ÖAMTC-Verkehrsps­ychologin Marion Seidenberg­er. „Leider geht es vielen aber nicht mehr darum, bei Unfällen helfend einzugreif­en, sondern nur darum, den eigenen Voyeurismu­s zu befriedige­n.“Im Internet-Zeitalter hätte sich ein Rennen um die besseren Fotos und Videos auf Facebook oder Youtube entwickelt. Zwar bestünden Sanktionsm­öglichkeit­en, um Schaulusti­ge zur Verantwort­ung zu ziehen – eine Verschärfu­ng sei aber durchaus überlegens­wert.

„Gesetze werden da nicht helfen, eher Appelle an Ethik und Menschlich­keit“, meint Gerry Foitik, Bundesrett­ungskomman­dant des Roten Kreuzes. „Neugierde ist verständli­ch. Aber heute liegen zwischen dem Fotografie­ren mit dem Smartphone und der Veröffentl­ichung im Netz nur wenige Sekunden. Die sollte man gut nutzen, und sich fragen, ob man das als Betroffene­r selbst gerne hätte“, hält Foitik fest.

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Gutlederer: „Müssen den Sichtschut­z immer aufbauen“
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Seidenberg­er: „Viele wollen ihre Neugier stillen.“

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