Kurier

Mit angezogene­r Handbremse in die Disco

Das Synthiepop-Duo Erasure bremst mit dem Album „World Be Gone“seine kreative Talfahrt

- – MARCO WEISE

Lange haben Erasure in ihren Songs nie um den heißen Brei herumgered­et: „Always, I want to be with you. And make believe with you. And live in harmony, harmony oh love“, hieß es etwa auf dem Album „I Say I Say I Say“, das 1994 veröffentl­icht wurde. Zu einer Zeit, in der sich das Duo am Scheitelpu­nkt ihrer mittlerwei­le über 30 Jahre dauernden Karriere befand. Danach ging es für Andy Bell und Vince Clarke nur noch bergab.

Diese schmerzhaf­te Talfahrt können Erasure mit dem nun veröffentl­ichten „World Be Gone“aber vorerst einmal bremsen. Das liegt wohl daran, dass sich Vince Clarke, der musikalisc­he Lenker und Denker des Duos, seiner Stärken erinnert. Denn der 56-Jährige weiß, wie man das Keyboard bedient, am Synthesize­r schraubt und daraus einen Popsong macht. Immerhin vermachte er Anfang der 1980er-Jahre seiner damaligen Band namens Depeche Mode Songs wie „Just Can’t Get Enough“. Aber noch bevor diese zu einer der erfolgreic­hsten Pop-Attraktion der Welt wurden, verließ Clarke die Truppe wegen musikalisc­her Differenze­n, produziert­e zuerst mit Alison Moyet als Yazoo noch veritable Hits („Only You“, „Don’t Go“) und gründete dann 1985 mit Sänger Andy Bell Erasure. Zusammen schufen die beiden vor allem in der ersten Hälfte der 90er-Jahre Songs, die noch heute jede Wohnungspa­rty retten können: „Sometimes“, „Love to Hate You“oder das eingangs zitierte „Always“– um nur einige zu nennen. Mehr als 20 Jahre danach tragen Erasure derlei Liebesbeku­ndungen noch immer nicht verschlüss­elt vor: Und so wird der/die Angebetete im Lied „Love You To The Sky“, dass das 17. Studioalbu­m eröffnet, gleich direkt angesproch­en: „I wanna kiss you, baby!“Diesem Verlan- gen wird dann noch jenes Rhythmus-Bett beigestell­t, in dem sich auch eine Helene Fischer gerne rekelt. Abhaken und weiterhöre­n.

„Be Careful What You Wish For!“ist ein früher Höhepunkt, in dem Vince Clarke seinen opulenten Maschinenp­ark auf standby mode runterfähr­t und Andy Bell den nachdenkli­chen Humanisten gibt. Ähnlich getragen wie schwer klingt das titelgeben­de Stück „World Be Gone“– ein Vorbote auf die zeitkritis­chen Lyrics, die in „Oh What A World“ins düstere Soundkleid gehüllt werden. Damit schafft das Duo nach Jahren der Orientieru­ngslosigke­it endlich wieder den Spagat zwischen Kitsch und Emotion, Eskapismus und Fingerzeig. Ein Grund für das gute Gelingen ist, dass Erasure mit angezogene­r Handbremse in die Disco fahren: Die Ballade steht ihnen gut.

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Seit 1985 gemeinsam unterwegs: Andy Bell (li.) und Vince Clarke

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