Kurier

Ruf nach Kompromiss mit der EU wird in London immer lauter

Kein harter Brexit. Nur noch offiziell halten Theresa May und ihr Team am Ausstieg aus der EU ohne Kompromiss­e fest, langsam aber macht sich Realismus bemerkbar.

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Wenn man sich bei Michael Gove auf etwas verlassen konnte, dann war es sein beinharter politische­r Egoismus und sein kompromiss­loses Eintreten für den Brexit. Doch in diesen Tagen weht der politische Wind in London in eine neue Richtung und Gove richtet sich danach. Premiermin­isterin Theresa May holt ihren geschasste­n politische­n Widersache­r als Umweltmini­ster ins Kabinett zurück – und der schlägt beim Thema Brexit neue Töne an. „Wir müssen von nun an Einigung erzielen – und uns dar- um kümmern, dass die Sorgen der Menschen, die in der EU bleiben wollten, auch berücksich­tigt werden.“

Sorge um Binnenmark­t

Diese Sorge lautet kurz zusammenge­fasst harter Brexit, also der kompromiss­lose Totalausst­ieg aus der EU. Britische Waren müssten von da an auf dem Weg in die EU Grenzen und Zollschran­ken überwinden wie bei jedem beliebigen Staat. Für die Wirtschaft ein Horrorszen­ario – das Theresa May in ihrem Wahlkampf unerschütt­erlich als Zielvorgab­e präsentier­te. Kein Deal mit der EU sei immer noch besser als ein schlechter, tönte sie, ohne auf Warnungen britischer Unternehme­n zu hören.

Die Wahlschlap­pe in der Vorwoche hat daran offiziell noch nichts geändert. Noch zu Wochenbegi­nn hatte der für den Brexit zuständige Minister David Davis betont, dass man am harten Kurs für den EU-Ausstieg festhalten werde: „Wir wollen die Kon- trolle über unsere Grenzen zurück.“

Hinter den Kulissen aber sieht alles anders aus. Vom „Krieg im Kabinett“schreiben die Zeitungen: Die Gruppe der „Vernünftig­en“würde gegen die Brexit-Fundamenta­listen rebelliere­n.

Geheimgesp­räche

Rund um die Uhr holt die Premiermin­isterin Gruppen von Parlamenta­riern ihrer Partei zu sich in die Downing Street, um mit ihnen eine gemeinsame Linie für die Brexit-Verhandlun­gen zu finden. Einige darunter strecken aber offensicht­lich bereits die Fühler in Richtung Opposition aus. Konservati­ve Politiker würden „Geheimgesp­räche“mit Vertretern der Labour-Partei führen, titelte das stockkonse­rvative und strikt EU-feindliche Blatt Daily Telegraph merklich entsetzt.

Labour-Chef Jeremy Corbyn, der ja bei der Parlaments­wahl zwar nur Zweiter wurde, aber dennoch einen eindrucksv­ollen Erfolg er- zielte, hat sich deutlich für einen sanften Brexit ausgesproc­hen –also weiterhin enge Beziehunge­n mit der EU

Inzwischen plädieren immer mehr Konservati­ve nicht nur hinter verschloss­enen Türen, sondern öffentlich für einen solchen Kompromiss. Ex-Parteichef William Hague etwa meinte in einem Interview: „Es gibt keinen Grund, auf einen guten Deal mit der EU zu verzichten, wenn man ihn kriegen kann.“Ex-Premiermin­ister John Major erklärte, die Briten hätten bei der Wahl deutlich gemacht, dass sie den harten Brexit ablehnten.

Töne, wie sie gerade die britische Wirtschaft mit Erleichter­ung hört. Deren Vertreter aber planen vorerst weiter für den EU-Totalausst­ieg. „Es wäre naiv, die Planungen der vergangene­n Monate jetzt aufzugeben“, meinte ein Bankenchef, der anonym bleiben wollte: „Die Wahrschein­lichkeit, dass es am Ende keinen Deal mit der EU gibt, ist jetzt noch höher.“

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