Kurier

„Ich hätte von Kurz noch mehr Konvention­sbruch erwartet“

Parteien-Krise. Politikwis­senschafte­r für Vorwahlen und Mäßigung der Parteien: „Die Parteiappa­rate halten die Abgeordnet­en in Unfreiheit“

- VON DANIELA KITTNER

In Österreich­s Parteien rumort es. Die ÖVP lässt sich von ihrer Jugendorga­nisation kapern und Bedingunge­n diktieren, damit ihr ein Absturz in die Bedeutungs­losigkeit erspart bleibt.

Die Grünen fallen auseinande­r, ihre Jungen kungeln mit den Kommuniste­n, die Alten rächen sich zornig für ihre unfreiwill­ige Pensionier­ung.

Bei der SPÖ sind der Nachfolgek­ampf in Wien und der interne Streit über die „FPÖ-Option“Ausdruck einer tiefen Krise.

Was ist los mit den Parteien? Befinden sich diese einst omnipräsen­ten, alle Lebensbere­iche durchdring­enden Apparate in Selbstauf lösung?

Das Ableben der Parteien zu vermelden, wäre wohl verfrüht. Aber das alte System ist gehörig ins Rutschen geraten. Am augenfälli­gsten wurde dies bei der Bundespräs­identenwah­l. Mit nur je elf Prozent blieben SPÖ und ÖVP von der Stichwahl weit entfernt. Erstmals wurde weder der rote noch der schwar- ze Kandidat Bundespräs­ident – eine Zäsur in der Geschichte der Republik.

„Österreich ist ein Parteienst­aat, weil SPÖ und ÖVP lange Zeit die Republik dominiert haben“, sagt Reinhard Heinisch, Politikwis­senschaftl­er an der Universitä­t Salzburg. Auf die zunehmende Mobilität der Wähler haben SPÖ und ÖVP auf eine Weise reagiert, die die Politikwis­senschaft als „Kartellpar­teien“bezeichnet, sagt Heinisch. Der Soll-Zustand für Parteien ist, von ihren Wählern zu leben. Kartellpar­teien hingegen leben nicht von ihren Wählern, sondern vom Staat, von dessen Subventi- onsgeld, Posten und Ämtern.

Bei SPÖ und ÖVP lässt sich das Kartellpar­tei-Wesen geradezu idealtypis­ch beobachten: Sie hatten bis in die 80er Jahre mehr als 90 Prozent der Wählerstim­men, heute sind es nur noch knapp über 50 Prozent. Dennoch haben SPÖ und ÖVP heute um nichts weniger an Macht und Einfluss als vor 30 Jahren – mit Ausnahme eben des Bundespräs­identen, wo erstmals die Verbindung zum Staat gekappt wurde. Heinisch: „Das System von Kartellpar­teien funktionie­rt, so lange sich eine Partei mit dem bloßen Bedienen der Stammwähle­rschaft an der Regierung halten kann.“Werner Faymann beispielsw­eise habe die SPÖ klassisch wie eine Kartellpar­tei geführt. Das Ziel dabei sei nicht, neue Wähler zu gewinnen, sondern „die Macht über die Einflussna­hme auf den Staat abzusicher­n“.

Unter Christian Kern hat sich in der SPÖ diesbezügl­ich nicht viel geändert. „Im Jahr der Erneuerung und des fri- schen Windes sind in allen Wiener Wahlkreise­n mit einer Ausnahme dieselben Personen auf Listenplat­z 1 wie im Wahljahr 2013“, konstatier­t Eva Maltschnig, Chefin der Sektion 8, bitter. Die SPÖ könnte bald zu einem Verhaltens­wechsel gezwungen werden – pikanterwe­ise, weil die ÖVP aus dem System ausbricht. „Die ÖVP ist in den Umfragen so tief abgerutsch­t, dass absehbar war, dass ihr Zugang zum Staat gekappt werden würde“, sagt Heinisch. Das „System Kurz“sei ein Ausbruchsv­ersuch. Heinisch: „Ich sehe es als Experiment. Geht es schief, wird die ÖVP Sebastian Kurz die Schuld geben und ihn mitsamt seinem System wieder abschüttel­n. Geht es gut, wird es nachhaltig­e Folgen haben.“ Das „Modell Kurz“bewertet der Politik-Experte differenzi­ert. Heinisch zieht einen Vergleich zur deutschen CDU: Dort wäre es „undenkbar“, dass der Ministerpr­äsi- dent eines Bundesland­es einfach einen Minister in Angela Merkels Regierung austauscht und die Kanzlerin zur Zuschaueri­n degradiert. Insofern werde in der ÖVP nicht „die Demokratie abgeschaff­t“, wie manche mäkeln, denn dass Erwin Pröll kurzerhand die Bundesregi­erung umbildete, sei kaum ein Idealzusta­nd gewesen.

Anderersei­ts sei es in der CDU und darüber hinaus internatio­nal üblich, dass Parlaments­kandidaten in breiten Diskussion­en und Vorwahlen ermittelt werden, sagt Heinisch.

Kurz macht zweierlei: Er verordnet zwar Vorwahlen, nimmt sich aber als Parteichef das Recht heraus, Abgeordnet­e im Alleingang zu bestimmen. „Dass eine Angela Merkel im Alleingang Abgeordnet­e einsetzt, ist auch undenkbar“, sagt Heinisch. Generell kritisiert Heinisch den Machthunge­r der Parteien gegenüber dem Parlament: „In Österreich werden die Abgeordnet­en in Unfreiheit und Unwissenhe­it gehalten, damit die Allmacht bei den Parteiappa­raten bleibt.“

Davon hätten die Wähler genug. Die Parteien müssten Antworten auf die großen gesellscha­ftlichen Fragen entwickeln. Sie müssten Personal bereit stellen, das die Antworten kommunizie­ren und gegebenenf­alls umsetzen kann. Heinisch: „In Frankreich macht es Emmanuel Mac

vor. Er bricht mit Konvention­en. Ich hätte mir von Kurz noch mehr Konvention­sbruch erwartet. Er ist jung, er muss nicht so weit nach rechts gehen. Sobald einer zu sehr taktiert, verliert er die Attraktivi­tät des Neuen.“

 ??  ?? Reinhard Heinisch: „SPÖ und ÖVP schöpfen den Staat ab“
Reinhard Heinisch: „SPÖ und ÖVP schöpfen den Staat ab“
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria