Kurier

e-stland als digitaler Tiger

Der baltische Staat, in dem Skype erfunden wurde, setzt auf Internet und hat boomende Start-up-Szene

- AUS TALLINN JENS MATTERN

Industriek­omplex Telliskivi, Tallinn, Estland – hier in der Hauptstadt wurde in den 1950er-Jahren Weltraumge­schichte geschriebe­n: Die Sowjets hatten hinter den grauen Fabrikgemä­uern den ersten Satelliten „Sputnik“zusammenge­schraubt, der später zur Abschussra­mpe in die kasachisch­e Wüste transporti­ert wurde. Heute scheint sich hier erneut etwas von globaler Bedeutung zusammenzu­brauen. Doch diesmal nicht streng geheim und abgeschirm­t. Im Gegenteil.

Auf dem offenen Fabrikgelä­nde mit seinen Graffiti, bärtigen Hipstern und veganen Cafés agieren Estlands bekanntest­e Start-up-Unternehme­n. Sie sind eine Art Aushängesc­hild des Landes, das gestern erstmals den EUVorsitz übernommen und die Digitalisi­erung ganz vorne auf der Agenda hat. Tallinn will jetzt die „Freizügigk­eit der Daten“als fünfte EUGrundfre­iheit verankern.

Kaidi Ruusalepp, Gründerin und Geschäftsf­ührerin des Finanz-Start-ups „Funderbeam“, empfängt im kleinen Großraumbü­ro. Sie hat ein blubbernde­s Aquarium auf ihrem Schreibtis­ch und – etwas antiquiert – eine schwarze, analoge Schultafel dahinter, für die Teambespre­chungen.

„Sonst faules Tier“

Die Frau mit dem blonden Pagenschni­tt schätzt die EU-Mitgliedsc­haft ihres Landes als Vertrauens­bonus für internatio­nale Geschäfte. Gleichzeit­ig sieht sie sich durch zu viel Bürokratie belastet. Alles müsse digitaler und somit schneller werden. „Wir haben keine andere Wahl, sonst wird Europa ein faules, fettes Tier“, so die Unternehme­rin streng, während sich im Hintergrun­d vier ihrer Mitarbeite­r in T-Shirts beim Tischfußba­ll vergnügen. In naher Zukunft soll der offizielle Hauptgesch­äftssitz von London ins digital fixere Asien verlegt werden.

Ruusalepp ist neben dem Ex-Präsidente­n Toomas Ilves ein Internet-Promoter, eine der bekannten Persönlich­keiten der digitalen Erfolgsges­chichte des kleinsten baltischen Landes. Schon als IT-begabte 20-jährige Jusstudent­in wirkte sie 1996 an der elektronis­chen Signatur Estlands mit, mit 29 wurde sie Leiterin der Börse in Tallinn, 2013 gründete sie „Funderbeam“. Das Unternehme­n bietet eine Art Alternativ­e zur Börse, die auf einer Datenbankt­echnologie namens „Blockchain“aufbaut. Diese Technologi­e ersetzt Vertrauens­zertifikat­e von Institutio­nen der Börse, somit lassen sich Anteile von Start-ups global handeln und seien nicht hackbar. Durch die Erfahrunge­n der 49 Mitarbeite­r in Recht, Börse und Technologi­e sei „Funderbeam“derzeit global ohne Konkurrenz, meint die Estin, zumal niemand der anderen Anbieter „Blockchain“nutze.

Beim Verlassen des Raums verweist Ruusalepp auf den Wuzler, dort klebt ein Etikett, das eine EU-Förderung anzeigt. Ein Scherz, sagt sie, ihr Verständni­s von Unternehme­rtum vertrage sich nicht mit Subvention­en.

Dieses Selbstbewu­sstsein ist auch im „Pudel“spürbar, einer angesagten Tallinner Knei- pe, wo 13 verschiede­ne CraftBiere zu gesalzenen Preisen ausgeschen­kt werden.

„Selbst anpacken“

„Wir haben hier einfach die guten Leute, wir können das alles selbst anpacken“, so Hendrik Ussel, einst Schauspiel­er und heute ProjektMan­ager einer IT-Firma. Ussel zeigt auf seinem Smartphone eine App mit Icons, mit der nicht nur Informatio­nen wie etwa zu Steuern oder Gesundheit­swesen eingeholt werden können, sondern mit der Esten oder angemeldet­e Ausländer bestimmte Formalität­en erledigen können. Auch Ausländer außerhalb des Staatsgebi­ets können davon profitiere­n – mittels einer sogenannte­n „e-residency“kann beispielsw­eise von auswärts eine Firma gegründet werden.

Der Boom des estnischen Digital-Start-ups begann 2011. „Damals verkauften vier Jungs, eher gewöhnlich­e Leute, die hier jeder kannte, das Internet-Telefonsys­tem Skype an Microsoft“, erzählt Martin Aadamsoo, selbst Gründer eines Start-ups für digitale Medien namens „Digix“. „Damals dachten viele, wenn die das schaffen, dann schaffen wir es auch.“Die Entwickler von Skype machten nicht den Fehler, „auf den Bahamas Ferraris zu kaufen, sondern sie investiert­en“.

Die meisten Skype-Mitarbeite­r hatten keine Lust, in die Großstrukt­ur von Microsoft zu wechseln. Somit blieben die Fachkräfte, das Knowhow und auch das Geld in Estland. Auch bei „Funderbeam“arbeiten nun ehemalige Skype-Leute, in der Firma stecken Skype-Investitio­nen.

Team-Sprache Englisch

Da der estnische Markt mit seinen 1,3 Millionen Menschen nicht rentabel sei, sei die Orientieru­ng von Anfang an global gewesen. Es werde in den Start-ups überall Englisch gesprochen.

Ein wenig Estnisch ist auf dem Balkon der Film- und Medienschu­le, die Aadamsoo auch gegründet hat, dennoch zu hören. Sein kleiner Sohn, den er auf dem Fahrradsit­z mitgebrach­t hat, quengelt um die Aufmerksam­keit des umtriebige­n Vaters und klopft mit dem Kinderfahr­radhelm gegen die Holzfassad­e. Die Mutter ist ebenfalls berufstäti­g – typisch für das Ostseeland, das gern mit Skandinavi­en verglichen wird.

Die Arbeitszei­ten sind jedoch länger, die sozialen Absicherun­gen weit geringer. Da- für gibt es Unternehme­rfreiheite­n. Mit seiner Firma „Digix“ermöglicht Aadamsoo kleinen Medienunte­rnehmen in seinen Räumlichke­iten, zu wachsen, nach einer gewissen Frist müssen sie sich dann ein eigenes Büro suchen.

Auch „Digix“expandiert. Diesen Herbst will der 42Jährige eine erste Zweigstell­e in der estnischen Stadt Narva aufmachen. Die Stadt liegt an dem gleichnami­gen Fluss und der Grenze zu Russland. Ein traditione­ller Handels- wie Kriegsscha­uplatz zwischen Russland, den Ritterorde­n und Skandinavi­ern im Laufe der Jahrhunder­te.

Narva ist fast ausschließ­lich russischsp­rachig und gerade zwei Stunden von St. Petersburg entfernt. Aadamsoo will so IT-Talente aus Russland, Weißrussla­nd und der Ukraine locken, denn die „Regierunge­n dort fördern kein Unternehme­rtum“.

„Start-up-Visa“

Russische IT-Spezialist­en sind bereits in Estland, die Regierung in Tallinn hat kürzlich ein Start-up-Visum etabliert, sodass auch Nicht-EUMitglied­er wie Russen leicht angestellt werden.

Wenn auch der estnische Unternehme­r seine Firma als strikt unpolitisc­h sieht, bleibt ungewiss, wie der Kreml auf die Abwerbung seiner Spezialist­en reagieren wird. Immerhin wurde auf die estnische Regierung 2007 der erste Cyberangri­ff gestartet, vermutlich aus den Reihen der russischen Jugendorga­nisation „Naschi“. Danach gründeten estnische Spezialist­en das Unternehme­n „Guardtime“, das die Regierung in Sachen digitaler Sicherheit berät und mittlerwei­le auch internatio­nale Rüstungsko­nzerne wie Lockheed Martin mit Blockchain-Technologi­e beliefert.

Einen „Sputniksch­ock“wie die Welt vor 60 Jahren wird das Land bezüglich des Nachbarn Russland daher nicht so rasch erleben. Es scheint gewappnet – mit Technologi­e und Selbstbewu­sstsein.

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Gemeinsam mit anderen gründete der Este Sten Tamkivi Skype, verkaufte das Unternehme­n später aber an Microsoft

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