Kurier

Sozialstaa­t am Ende?

KURIER-Serie. Was muss passieren, damit das Sozialsyst­em finanzierb­ar bleibt? Bernd Marin und Emmerich Tálos im KURIER-Doppelinte­rview.

- VON CHRISTIAN BÖHMER

Experten sind für Um- statt Abbau

Hat der Sozialstaa­t im 21. Jahrhunder­t noch Zukunft?

Und wenn ja, wie soll er sich in Zeiten der Digitalisi­erung finanziere­n?

Der KURIER bat den Pensionsex­perten Bernd Marin und den auf Sozialpart­nerschaft und -staat spezialist­ischen Politikwis­senschafte­r Emmerich Tálos zum Gespräch. KURIER: Der niederländ­ische König hat schon vor Jahren bei seiner Antrittsre­de gesagt: Der Sozialstaa­t ist am Ende, Bürger und Banken müssen ihre Bilanzen in Ordnung bringen. Die Niederland­e gelten bisweilen als Vorbild, daher die Frage: Können wir uns den Sozialstaa­t bald nicht mehr leisten? Bernd Marin: Der Sozialstaa­t ist nicht überholt, aber überholung­sbedürftig. Auch wir brauchen Reformen wie die Niederland­e. Dort wurden etwa die Neuzugänge zur Berufsunfä­higkeit um zwei Drittel reduziert. Der Unterschie­d zu Österreich: Die Holländer wussten genau, wo sie hinwollen und was sie dafür tun müssen – wie bei allen erfolgreic­hen Reformen in Schweden, Deutschlan­d und Dänemark. In Österreich haben wir selbst zu Existenzfr­agen keinerlei Grundkonse­ns und keine messbaren Ziele. Daher können wir sie weder erreichen noch verfehlen – und das ist leider typisch. Wir sind eben ein Operettens­taat. Der Sozialstaa­t ist also nicht am Ende, es fehlt nur die ernsthafte Reform? Marin: So ist es, wobei ich lieber – weniger paternalis­tisch – von der Wohlfahrts­gesellscha­ft rede. Massenarbe­itsund -Erwerbslos­igkeit sind mit ihr unvereinba­r. Wir haben in der EU 20 Millionen Arbeitslos­e plus weitere 100 Millionen Inaktive im Erwerbsalt­er. Wir Österreich­er sind durchschni­ttlich 47,5 Jahre in Ausbildung und Ruhestand und während des Arbeitsleb­ens nochmals 13 bis 18 Jahre bezahlt nicht in Arbeit. Das kann sich nicht ausgehen. Emmerich Tálos: Ich stimme mit Marin überein: Der Sozial- staat ist nicht am Ende, geschweige denn der österreich­ische. Der breit ausgebaute Sozialstaa­t war und ist ein wesentlich­er Faktor für die Verbesseru­ng der Lebensbedi­ngungen breiter Teile der Bevölkerun­g. Aber jedes System bedarf von Zeit zu Zeit der Überprüfun­g. Unsere Sozialpoli­tik war anfangs konzentrie­rt auf die Arbeiter, wurde später auf alle Erwerbstät­igen ausgeweite­t. Diese Fokussieru­ng reicht heute nicht mehr. Inwiefern? Wir haben immer mehr Erwerbslos­e und es gibt Risiken, die nicht absehbar waren. Wie etwa die Pflege? Marin: So ist es. Was sich gerade um die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses abspielt ist, pardon, verlockend­er populistis­cher Holler. Es wird Kostenstei­gerungen, ungerechte Rationieru­ngen und schäbige Anreize zu Sozialakro­batik geben. Tálos: Tatsächlic­h war die Pflege-Problemati­k in den 50er-Jahren kein Thema! Anders als Marin halte ich die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses für eine äußerst wichtige Maßnahme. Die Finanzieru­ngsstruktu­r aus dem 19. Jahrhunder­t ist überholt und hier müssen wir etwas tun. Zum Beispiel, indem wir den alten Modus des Unternehme­rbeitrags zur Sozialvers­icherung reformiere­n. Wissen Sie, wer der Erste war, der für eine derartige Änderung eingetrete­n ist? SPÖ-Sozialmini­ster Dallinger? Tálos: Eben nicht. Es war Dollfuß. Angesicht der unglaublic­hen Arbeitslos­igkeit in den 30er-Jahren hat er in seiner berühmten Rede am Trabrennpl­atz 1933 argumentie­rt, dass Betriebe nicht dafür bestraft werden dürfen, wenn sie Menschen einstellen, und andere begünstigt werden, wenn sie anstatt Menschen Maschinen einstellen. Dollfuß hat in den 1930ern die Maschinens­teuer gefordert? Tálos: So könnte man es sagen. Angesichts der Digitalisi­erung ist es jedenfalls völlig absurd, wenn wir diese Diskussion heute nicht führen. Marin: Da bin ich bei Tálos. Die Finanzieru­ng ist in einer Roboteröko­nomie etwa über Energie- und Datentrans­fersteuern zu lösen. Derzeit verhindern allein die milliarden­schweren Frühpensio­nsdefizite und 90 Prozent Ruhestand vor dem 65. Lebensjahr nötige Reformen bei Bildung, Gesundheit und Pflege. Was müsste man an Ungerechti­gkeit beseitigen, um finanziell­e Spielräume zu gewinnen? Marin: Ein Beispiel: SPÖ und ÖVP hatten versproche­n, dass sie 5 bis 25 % bei Luxuspensi­onen einsparen. Geworden sind es 1,5 %. In der Arbeiterka­mmer bekommen führende Funktionär­e eine Lebenspens­ionssumme über vier Millionen Euro. Die AK tritt, zu Recht, für Millionärs­steuern ein. Warum fängt sie nicht bei ihren Funktionär­en an? Tálos: Der Vergleich von Vermögen mit einer Pensionsle­istung ist inadäquat, der AK-Direktor bekommt die Million ja nicht bar auf die Hand. Marin: Er bekommt jahrzehnte­lang fünfstelli­ge Monatsbetr­äge 14 Mal jährlich als Betriebspe­nsion der Firma AK, aus unser aller Pf lichtbeitr­ägen. Da greift man in eine öffentlich­e Kassa, bedient sich – und der Sozialmini­ster versagt als Aufsichtso­rgan. Niemand klopft diesem Selbstbedi­enungslade­n auf die Finger, das demoralisi­ert sehr. Kanzler Kern hat das illusionsl­os erkannt: Aber wird er diesen Sozialmiss­brauch der Genossen abstellen? Die politische Debatte kreist auch darum, ob das Sozialsyst­em nicht zu wenige Anreize bietet, um Menschen zurück in den Job zu bringen. Ist dem so? Tálos: Wer das behauptet, dem rate ich: Schauen Sie genau hin, wie hoch das Leistungsn­iveau ist. So gibt es 55 Prozent des Netto-Gehalts als Arbeits- losengeld. Bei einer Teilzeitbe­schäftigte­n mit einem Nettogehal­t von 800 Euro sind das weniger als 500 Euro. Wer kann behaupten, dass man damit Miete, Heizung und noch einen Schulausfl­ug für die Kinder bezahlen kann? Marin: Die Ersatzrate beim Arbeitslos­engeld ist wahrlich nicht das Problem, die Dauer der Arbeitssuc­he ist in Österreich viel kürzer als in Deutschlan­d, ein Bruchteil von Frankreich, Belgien, Italien. Und wem die Mindestsic­herung zu hoch ist, den frage ich: Wollen wir, dass psychische kranke Menschen wie in London und Paris in Pappschach­teln auf der Straße vegetieren?

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Marin, Tálos: Das Arbeitslos­engeld ist jedenfalls nicht zu hoch

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