Ihre Rollen neu zu denken“
Folklore und Pikanterien: „Der Zarewitsch“in der Sommerarena
Die eine ist blutjung, die andere weit älter. Was verbindet die beiden Frauenfiguren?
Wir thematisieren Strategien der Macht. Und beide Figuren sind Strateginnen. Interessant ist, wie sie mit ihrer fraulichen, auch körperlichen Macht umgehen. Die Lulu ist zugleich Täterin und Opfer. Und Lady Macbeth ist nicht weniger facettenreich. Wo gibt es noch Bezüge? Sie hätten zum Beispiel Alban Bergs „Wozzeck“mit Georg Büchners „Woyzeck“ergänzen können …
Könnte man. Oder Aribert Reimanns „Lear“mit dem „Lear“von Shakespeare. Aber das ist nicht die Art von Spiegelung, die ich mir vorstelle. Gerade in Bezug zu „Wozzeck“finde ich „Rose Bernd“von Gerhart Hauptmann spannend. Denn auch die Rose Bernd wird durch gesellschaftliche Umstände zermürbt. Beide Figuren befinden sich auf der Verliererebene, am Abhang, wo man abrutscht, sich nicht mehr festhalten kann. Da gibt es keine Hilfe, keine Hand, keine Erlösung. Rose Bernd und Wozzeck erleiden ein vergleichbares Schicksal – mit sehr unterschiedlichem Ausgang: Die Aggression richtet sich das eine Mal nach innen, das andere Mal nach außen. „Rose Bernd“war noch nie bei den Festspielen zu sehen.
Auch Wedekinds „Lulu“nicht. Ödön von Horváth wurde zwar häufig gespielt, aber „Kasimir und Karoline“hat man hier ebenfalls noch nie sehen können. Sie haben viel recherchiert!
Und ich war richtig verblüfft, als ich sah, was es alles noch nicht gab. Dabei sind Wedekind und Hauptmann Autoren, die Festspielgründer Max Reinhardt in Berlin sehr protegierte. Man hätte erwarten können, dass er sie auch in Salzburg auf die Bühne gebracht hat. Aber nein. Er wird seine Gründe gehabt haben, die ich mir auch imaginieren kann. Ich denke aber, einige Jahre später kann und soll man diese Stücke zeigen. „Einige Jahre“ist gut! Gehen Sie mit „Rose Bernd“nicht trotzdem ein Wagnis ein? Denn es ist ein unbekanntes, sehr tristes Stück.
Von „Rose Bernd“bin ich zutiefst überzeugt. Es ist eines der besten Stücke von Hauptmann, die Kombination mit Lina Beckmann in der Titelrolle in der Regie von Karin Henkel ist ein Geschenk. Hauptmann hat es auf Schlesisch geschrieben. Aber kein Schauspieler kann heutzutage diesen Dialekt sprechen.
Auf der Bühne wird trotzdem Schlesisch gesprochen – als eine Art Kunstsprache. Uns, also Karin Henkel und mir, war in den Vorgesprächen ganz wichtig, die Sprache nicht zu begradigen. Sie hat eine Rohheit, die wir gar nicht mehr kennen. Man muss sich erst reinhören. Aber ja: Das ist in gewisser Weise ein Experiment. Und eines, das man wagen muss. Passt auch Harold Pinters „Die Geburtstagsfeier“ins Konzept? Oder erfüllen Sie Regisseurin Andrea Breth einen Wunsch?
Beides. Andrea Breth hat sich intensiv mit Pinter beschäftigt – und bereits dessen „Hausmeister“inszeniert. Auch in der „Geburtstagsparty“geht es um Macht und Ohnmacht: Zwei Männer führen an einem fast gesichtslosen Opfer eine Art Dehumanisierungsprojekt durch. Da entsteht eine relativ kalte, manipulative Situation, eine Comedy of Menace – und diese finde ich als Metapher für unsere Gesellschaft sehr interessant. Hat das Stück nicht auch etwas Kafkaeskes? Stanley wird der Prozess gemacht – und man weiß eigentlich nicht warum.
Durchaus. Man rechnet den Autor immer wieder dem absurden Theater zu, aber das stimmt nicht ganz, auch wenn Pinter einen Hang zum Absurden hat. Das Eis ist jedenfalls dünn. Man weiß nie genau, wohin man steigen soll, damit es nicht bricht. Es gab relativ kurzfristig zwei Umbesetzungen.
Andrea Clausen und Martin Reinke mussten wegen Erkrankungen ihre Rollen zurücklegen. Zum Glück haben wir mit Nina Petri und Pierre Siegenthaler wunderbaren Ersatz gefunden. Eine Umbesetzung gibt es nun auch bei „Lulu“: Statt Martin Wuttke spielt Steven Scharf. Und dann gibt es eben noch „Kasimir und Karoline“. Ist dieses partizipative Projekt eine Fortsetzung des Bürgertheaters, das Sie in St. Pölten etabliert haben?
Nein, das Ausschlaggebende waren die 600 Highwaymen, die seit vielen Jahren mit Schauspielern und Laien arbeiten. Ich habe mehrere Vorstellungen dieses New Yorker Kollektivs gesehen, sie transportieren Geschichten auf eine sehr originäre Art, mit großen choreografischen Anteilen. Mir ist wichtig, verschiedene Formen zeitgenössischen Theaters zu zeigen, unterschiedliche Zugänge. Wie viele Menschen werden bei „Kasimir und Karoline“auf der Bühne stehen?
Es gab ein Casting mit 350 Bewerbungen, und dann haben Abigail Browde und Michael Silverstone eine Gruppe mit 24 Leuten gebildet. Das Young Director’s Project gibt es nicht mehr. Schade?
Wir werden sehen, ob sich wieder ein junges Format entwickeln lässt. Nachwuchstalente im Schauspiel- wie im Regiebereich sind auch in diesem Sommer unsere Gäste. Und in der neuen Reihe „Schauspiel-Recherchen“, die an vier Sonntagen im Stefan Zweig Centre stattfindet, geht es um die Themen, die in den Stücken verhandelt werden. Die berühmte Soziologin Eva Illouz ist zu Gast, Klaus Kastberger und Oliver Nachtwey reden über die Abstiegsgesellschaft im Kontext von „Kasimir und Karoline“, Shirin Neshat trifft auf Athina Rachel Tsangari, und Michael Eberth spricht über unsere Titelheldinnen! Kritik. Ein Barren, Ringe, ein Bock in einem kargen Raum, auf den bedrohlich vergoldete Ahnenköpfe herabschauen: In diesem Ambiente lebt der menschenscheue Thronfolger Alexej. Abhärtung statt Frauen – denen geht er grundsätzlich aus dem Weg. Eine Intrige führt ihm aber die Tänzerin Sonja – als Knaben verkleidet – zu …
Für seine erste Inszenierung als Hausherr in Baden hat sich Michael Lakner Lehárs Spätwerk „Der Zarewitsch“ausgewählt. Ihm gelingt eine nachvollziehbare Dramaturgie mit plausiblen Charakteren – keine geringe Leistung angesichts des Stoffes. Freilich hat er mit Maya Boog eine Sonja, deren einnehmendes, temperamentvolles Spiel über manche Untiefen hinweghilft. Dazu entfaltet sie die großen Melodiebögen, die Lehár oft schon recht opernaffin angesiedelt hat, mit prächtiger Stimme.
Als Zarewitsch, der seine misogyne Haltung überwindet, überzeugt Jevgenij Taruntsov. Er führt seinen schön timbrierten Tenor mit eleganter Phrasierung und kultiviertem Piano, geht allerdings bisweilen an seine vokalen Grenzen.
Treuherziger Lakai
Thomas Malik als treuherziger Leiblakai Iwan und Melanie Schneider als dessen resolute Gattin Mascha, die ihre Ehe anfangs geheim halten müssen, liefern die auflockernden, mit Pikanterien nicht geizenden Kontrapunkte zur melancholischen Grundstimmung um Alexej und Sonja, denen die Staatsräson kein Happy End gönnt. Witzig ist Artur Ortens als eifersüchtiger Kraftlackel. Das Ballett bietet die erwartbaren folkloristischen Anklänge in der geschmackvollen Choreografie von Michael Kropf. Im Orchestergraben animiert Oliver Ostermann zu wohldosierter Sentimentalität. Eine gelungene, vom Publikum heftig akklamierte Produktion.