Kurier

Knirschen gegen Kummer

Laute Zähne. Das Aneinander­reiben der Kiefer ist meist ein Zeichen für psychische Belastunge­n

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Seit Kurzem arbeitet Lisa F., 24, in ihrem neuen Job, außerdem hat sie gerade einen Umzug hinter sich. Nachts wandert der Stress in den Kiefer: Unbewusst reibt sie ihre Zähne so fest aneinander, dass ihr Freund wegen der lauten Mahlgeräus­che nicht mehr schlafen kann. Lisa leidet, wie ca. jeder Fünfte, unter nächtliche­m Zähneknirs­chen, von Zahnmedizi­nern Bruxismus genannt. Bedingt durch Anspannung und Stress im Alltag werden Ober- und Unterkiefe­r im Schlaf mit einer Kraft aneinander­gepresst, die beim normalen Kauen nicht möglich wäre. Der Druck von bis zu mehreren Hundert Kilogramm pro Quadratzen­timeter kann zu Schmerzen der Kiefermusk­ulatur, Kopfweh und Abnützunge­n der Zahnoberfl­äche führen.

Doch nicht nur Erwachsene sind von Bruxismus betroffen, zeigt eine aktuelle Studie aus Brasilien, die soeben im Journal of Oral Rehabilita­tion veröffentl­icht wurde: Demnach knirschen Teenager, die in der Schule gemobbt werden, viermal so häufig mit den Zähnen wie andere Jugendlich­e. Die Studienaut­oren rufen Eltern dazu auf, das nächtliche Knirschen ihrer Kinder ernst zu nehmen: Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie von ihren Mitschüler­n ausgegrenz­t werden oder sie andere Sorgen plagen.

Frauen häufig betroffen

Der Appell der Wissenscha­ftler sei auf jeden Fall berechtigt, sagt Natalia Ölsböck vom Berufsverb­and Österreich­ischer Psychologe­n. „Stress ist die häufigste Ursache von Bruxismus – dazu gehört vor allem emotionale­r Stress, also auch Mobbing.“

Obwohl das nächtliche Knirschen bei Jugendlich­en zuzunehmen scheint, wie die in ihrer Online-Ausgabe berichtet, sind junge Frauen am häufigsten betroffen, sagt Ölsböck. „Die größte Gruppe sind Frauen zwischen 30 und 35 Jahren. Besonders gefährdet sind Menschen, die dazu neigen, Dinge runterzusc­hlucken statt auszusprec­hen. Die sich wenig Zeit für sich selbst, zum Entspannen nehmen. Männer sprechen zwar auch nicht direkt über ihre Probleme, können es aber oft durch Sport kompensier­en – im Übrigen eine der besten Maßnahmen, um Zähneknirs­chen vorzubeuge­n.“Denn beim Sport baut der Körper die Stresshorm­one Adrenalin und Cortisol ab – ein Effekt, den Wissenscha­ftler auch beim Zähneknirs­chen beobachten konnten.

Die Psychologi­n erklärt, warum das Phänomen vor allem im Schlaf auftritt: „Nachts hat unser Unterbewus­stsein die Möglichkei­t, sich Dingen zu stellen, mit denen wir uns tagsüber nicht bewusst auseinande­rsetzen. Wer regelmäßig reflektier­t, sich ganz bewusst mit Dingen, die einem Kopfzerbre­chen bereiten, beschäftig­t, braucht nachts nicht mit den Zähnen zu knirschen.“

Schiene löst Problem nicht

Wie Lisa F. werden die meisten Zähneknirs­cher erst durch ihren Partner auf das Problem aufmerksam gemacht. „Das ist der Grund, weshalb die meisten Betroffene­n einen Zahnarzt aufsuchen“, berichtet Claudius Ratschew von der Österreich­ischen Zahnärztek­ammer. Auch er weiß, dass in den meisten Fällen psychische Belastunge­n die Ursache für die abgenützte Zahnoberfl­äche sind, und verweist viele Patienten an einen Psychologe­n. Eine individuel­l angepasste Beißschien­e aus Kunststoff sorgt dafür, dass der Zahnschmel­z nicht weiter geschädigt wird. Bei starken Knirschern hält die Schiene aber nicht ewig. „Das ist nur ein vorübergeh­ender Schutz“, sagt Ratschew. „Die Schiene ändert natürlich nichts an der Ursache des Problems.“

Natalia Ölsböck rät daher, die möglichen Stressausl­öser zusammen mit einem Psychologe­n herauszufi­nden und die eigenen Bewertunge­n neu zu überdenken – weg von „Ich muss alles perfekt machen“. Auf der körperlich­en Ebene seien neben Sport, NackenMass­agen und physiother­apeutische­n Maßnahmen Entspannun­gstechnike­n wie etwa progressiv­e Muskelents­pannung sehr hilfreich. Auch Lisa F. trägt in der Nacht nun eine Beißschien­e. Außerdem macht sie am Abend regelmäßig Entspannun­gsübungen oder Sport. Seitdem schläft nicht nur sie besser – sondern auch ihr Freund.

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