Libysche Küstenwache zu Besuch
Mittelmeer. 127 Migranten aus Schlauchboot geborgen – Rettungsauftrag trotz italienischen Banns für NGOs
Der Dienstag beginnt so ereignislos wie die vergangenen fünf Tage auf der „Prudence“, einem Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen (MSF) vor der libyschen Küste. Dann, kurz vor acht Uhr, klingelt auf der Brücke das Satelliten-Telefon. Das Seenotrettungszentrum MRCC in Rom meldet ein Schlauchboot mit circa 100 Personen an Bord und gibt die Koordinaten durch. Die elf Seemeilen Entfernung schafft die „Prudence“bei voller Fahrt in knapp unter einer Stunde.
Als die hellgrauen Schläuche am Horizont auftauchen, ist klar, dass das Boot Gesellschaft hat. Zwei verdächtige Motorboote schaukeln in ein paar Hundert Metern Entfernung auf dem Wasser. Ein militärisches Auf klärungsflugzeug mit spanischen Hoheitszeichen kreist im Tiefflug über der Szene. Ein Beiboot der „Prudence“wird mit mehreren Dutzend Schwimmwesten in großen Säcken zu Wasser gelassen. Die drei Männer an Bord werden die Westen an die Insassen des Schlauchboots verteilen, bevor sich das Mutter- schiff Meter für Meter annähert, um das Boot längsseits festzumachen.
Bald sind die Köpfe im Schlauchboot auszumachen, es ist so dicht besetzt, dass die Menschen darin stehen müssen. „Ungefähr 30 Frauen und Kinder“, gibt der Franzose Alain, einer der Beiboot-Piloten, per Funk durch. „Ich brauche noch 30 Rettungswesten.“Die Menschen auf dem Boot winken. In diesem Moment bemerkt die Besatzung ein Schnellboot, das sich schnell nähert. Die mysteriösen Boote, die in der Ferne gewartet hatten, machen sich mit Vollgas davon. Sie hatten wohl gehofft, den Motor des Schlauchboots wieder mitnehmen zu können.
Besuch der Küstenwache
Die fadenscheinige libysche Flagge am Gestänge identifiziert das Schnellboot als eines der libyschen Küstenwache. Die fünf Männer darin sehen nicht aus, wie man sich professionelle Matrosen einer Küstenwache vorstellen würde. Sie positionieren sich neben dem Beiboot der „Prudence“. Freundliche Begrüßung und Handschlag, kurze Unterredung.
„Sie bieten uns ihre Unterstützung an, falls wir sie brauchen“, sagt der ArabischÜbersetzer am Beiboot. Sie wird nicht benötigt. Dreißig Minuten später sind die insgesamt 127 Personen, darunter 19 Frauen und sechs Kinder, an Bord, allesamt barfuß oder in schmutzigen Socken. Niemand hat Gepäck dabei. „Absolut reibungslos“sei die Rettung verlaufen, sagt Alain, der Beiboot-Pilot.
Während das leere Schlauchboot davondriftet, nimmt die Besatzung des libyschen KüstenwachenBoots den Außenbordmotor und den in Plastiktonnen gelagerten Treibstoff an sich. Dann zerschlitzen sie mit Messern die Schläuche, bis das Boot wie eine kaputte Luftmatratze im Wasser treibt.
Dass die libysche Küstenwache bei Rettungen direkt neben dem Schiff auf kreuzt und Unterstützung anbietet, ist ungewöhnlich. Es könnte ein weiteres Anzeichen dafür sein, dass sich auf der zentralen Mittelmeer-Route gerade einiges ändert. Seit zwei Wochen sind auffällig wenige Migrantenboote in die Gewässer außerhalb des libyschen Hoheitsgebiets vorgedrungen
„Prudence“im Abseits
Für das Team auf der „Prudence“kommt hinzu, dass sie seit Montag im „Stand-byModus“verharren mussten. Rettungsaktionen finden laut MSF immer auf Geheiß und Anweisung des MRCC in Rom statt. Bis zum Notruf am frühen Donnerstag hat tagelang de facto Funkstille geherrscht, während andere Schiffe mehrere Rettungen durchführten.
Dieser Umstand könnte auf die Ablehnung des NGOVerhaltenskodex seitens Ärzte ohne Grenzen am vergangenen Montag zurückzuführen sein. Die italienische Regierung hat angekündigt, dass alle NGOs, die den Kodex nicht unterzeichnen, vom offiziellen Rettungssystem ausgeschlossen würden. Warum am Dienstag schließlich doch die „Prudence“zumEinsatzort geschickt wurde, ist noch unklar. Möglicherweise, weil sie das einzige Schiff in der Nähe war.
Die 127 Menschen an Deck machen inzwischen das, was Gerettete nach ihrer mehrstündigen Fahrt in der Regel als Erstes tun: schlafen.