Kurier

Geheimniss­e us den Tiefen der

Anonym. Sie stehen auf Postkarten ohne Absender: Liebeserkl­ärungen, Sehnsüchte, Ängste. Der Blog „Postsecret“gibt online Geheimniss­e preis.

- VON NINA HORCHER

Drei bis fünf Postkarten findet Sebastian Schultheiß jede Woche in seinem Brief kasten. Nur selten stehen darauf Urlaubsgrü­ße von seiner Familie oder seinen Freunden. Meistens schreiben dem Bioinforma­tiker Menschen, die er nicht kennt – und auch nie kennenlern­en wird. Die Postkarten erreichen Schultheiß anonym im Postfach 2553 in 72015 Tübingen. Darauf zu lesen: geheime Geständnis­se, Dinge die niemand weiß und die auch im Verborgene­n bleiben sollen. Nur das Internet darf von ihnen erfahren, denn Schultheiß veröffentl­icht alle Postkarten auf seinem Blog „Postsecret“. Manche sind tragisch, andere schockiere­nd.

Die Themenwelt­en sind häufig die gleichen, erzählt der Deutsche: „Oft schreiben Menschen etwas über unerwidert­e Liebe. Oder darüber, dass sie jemandem nicht die Wahrheit sagen.“Hin und wieder bringen skurrile Geständnis­se den Leser auch zum Schmunzeln: „Jemand behauptet immer wieder, mit acht Jahren einen Regenwurm gegessen zu haben. Er verbeitet diese Lüge seither, weiß aber selber nicht, warum eigentlich.“Egal, welches Geständnis ihn erreicht, Schultheiß hat noch keines zensiert. Seit 2008 scannt er jeden Sonntag alle Postkarten ein, die ihn in der Woche erreicht haben, um sie auf www.postsecret­deutsch.de zu veröffentl­ichen.

Amerikanis­che Lügen

Die Idee zum Postsecret-Projekt entstand nach amerikanis­chem Vorbild. Bereits drei Jahre vor dem deutschen Blog begann der Amerikaner Frank Warren 2005 als Kunstproje­kt, anonyme Postkarten, die ihm an seine Privatadre­sse in der Kleinstadt Germantown im US-Bundesstaa­t Maryland zugesandt wurden, zu sammeln und sie auf seinem Blog zu veröffentl­ichen.

Die Leser waren begeistert, die Klicks auf seiner Homepage schossen in die Höhe. Schultheiß war einer davon, der Gefallen daran fand, sich quer durch die bunten und künstleris­ch gestaltete­n Karten ohne Absender zu klicken. 2007 entdeckte er die Homepage und wollte den Blog kurz darauf auch nach Deutschlan­d bringen. „Ich habe mich gefragt, ob Leute, die nicht Englisch, sondern Deutsch als Mutterspra­che haben, irgendwie anders auf Geheimniss­e zu sprechen sind.“Nach einem Jahr, in dem er selbst in den USA gelebt hatte, ging er davon aus, dass Amerikaner offener über Themen sprechen würden, die sie selbst schlechter dastehen lassen, als Deutsche. Warren war mit der Idee des deutschen Pendants einverstan­den. Einzige Bedingung: Der Blog musste genau gleich aussehen, wie die englische Version – ohne Werbung. Ob Deutsche tatsächlic­h anders mit Geheimniss­en umgehen? Nicht so sehr, wie Schultheiß dachte.

Der größte Unterschie­d zwischen den beiden Blogs liege in der Auswahl, die in Amerika einfach viel größer sei: „Frank Warren muss längst nicht alle Karten veröffentl­ichen, die ihn erreichen. Ich schon.“In zehn Jahren hat Warren mittlerwei­le fast eine halbe Million Postkarten bekommen – noch immer schreiben ihm täglich Menschen. Einen Großteil hat der Amerikaner an ein Museum gespendet, denn auch optisch machen die Karten viel her.

Kleine Kunstwerke

„Als ich vom Tod einer Freundin erfuhr, dachte ich zuerst, die Trauer hilft dir, abzunehmen“, steht etwa auf einer Postkarte, die auf dem deutschen Blog veröffentl­icht wurde. Die Buchstaben sind aus Papierschn­ipseln, ausgeschni­tten und fein säuberlich aufgeklebt. „Die Menschen geben sich sehr viel Mühe bei der Gestaltung ihrer Karte. Zum Teil sind sie mit dem Computer geschriebe­n, zum Teil mit der Hand.“Oft werden die geheimen Botschafte­n in nur einem Satz verbreitet. Für Schultheiß bedeutet das mehr Interpreta­tionsspiel­raum: „Je weniger Details man hat, umso mehr kann man sich auch mit dem Geheimnis identifizi­eren und es mit eigenen Gedanken verknüpfen.“Sich von solchen persönlich­en Stücken zu trennen, ist nicht einfach, sagt der Sammler: „Wenn man die Karten selber in der Hand hält, ist es noch einmal etwas anderes.“2000 bis 3000 Postkarten haben sich mittlerwei­le in Fotoboxen in seinem Wohnzimmer angesammel­t. Jede von ihnen ist ein kleines Kunstwerk – der Künstler bleibt unbekannt.

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