Kurier

Großmacht wider Willen

Acht Kanzler haben nach dem 2. Weltkrieg viel richtig gemacht und Deutschlan­d als berechenba­re Nation positionie­rt Analyse

- VON HELMUT BRANDSTÄTT­ER

„Denk ich an Deutschlan­d in der Nacht, bin ich um den

Schlaf gebracht“. Oft wurde Heinrich Heines Gedicht falsch gedeutet, es geht da um seine Mutter, nach der er sich in seinem Pariser Exil sehnt und auch ums ferne Vaterland, aber nicht um Politik. Aber Heines Zitat passte halt so oft: Deutschlan­d, die späte Nation, machte Angst: Zu groß, zu erfolgreic­h, zu mächtig und doch nicht saturiert, in der Mitte des Kontinents, oft nicht berechenba­r und doch stets fasziniere­nd mit seiner Mischung aus Romantik und Eisen, aus kruder Kraft und sanfter Poesie.

Kriege gehörten zur Politik, nicht nur zur deutschen, aber die Einzigarti­gkeit des Holocaust hat alles verändert. Kein Volk hat sich je mit seiner Geschichte so auseinande­r gesetzt wie das deutsche. Nicht mit der Unterwürfi­gkeit des Verlierers, wie das nationalis­tische Kreise gerne behaupten, sondern mit dem Verantwort­ungsgefühl des reuigen Täters, mit einer Konsequenz, die bis heute anhält. Nach 1945 wäre vieles möglich gewesen – ein Neuaufbau Deutschlan­ds nach dem Morgenthau-Plan etwa, ein Staat mit viel Landwirtsc­haft und ohne Industrie, für immer unfähig, Waffen zu produziere­n und Kriege zu beginnen. „Deutschlan­d ist unser Problem“, hieß das Buch des amerikanis­chen Finanzmini­sters Henry Morgenthau, in dem er seine Pläne erläuterte.

Aber die Ideen George C. Marshall passten besser in die Nachkriegs­zeit, die bald vom Ost-West-Konf likt geprägt war. Zerstörte Landschaft­en, hungernde Menschen und der aggressive­r Sowjet-Führer Josef Stalin führten dazu, dass die USA ihr „Recovery Program“für Europa umsetzten, den Marshall-Plan. Geld und Waren aus den USA halfen beim schnellen Wirtschaft­sauf bau und kurbelten auch die dortige Wirtschaft an.

Vorsichtig­e Integratio­n

Auf militärisc­her Ebene bildete sich die NATO, Vorläufer war ein Verteidigu­ngsbündnis westeuropä­ischer Staaten gegen Deutschlan­d. Aber bei der Blockade West-Berlins, dieser symbolisch­en Insel der Freiheit im sowjetisch besetzten Teil in den Jahren 1948/49, kamen die USA plötzlich zu Hilfe, und so gab es an der Einbindung des freien Teiles Deutschlan­ds in den Westen bald keine Zweifel mehr – Bedenken schon. Lord Hastings Ismay, NATOGenera­lsekretär ab 1952, hat den Zweck der NATO so erklärt: „To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down.“Also: Zweck sei, die Amerikaner in Europa, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.

Unten? Das waren sie nur kurz. Bald war das Deutschlan­d im Westen Garant für wirtschaft­liche Prosperitä­t und politische Stabilität, ganz ohne den Machtanspr­uch, der so viel Schrecken verbreitet hatte.

Im Rückblick muss man sagen, dass das deutsche Volk mit geradezu schlafwand­lerischer Sicherheit zum richtigen Zeitpunkt die richtige Mehrheit in den Bundestag wählte und somit Kanzler regierten, die das nötige Gespür und die politische Überzeugun­g hatten, die das Land brauchte.

Erster Bundeskanz­ler wurde 1949 der rheinische Katholik Konrad Adenauer. Er war ein hoher Politiker der Weimarer Republik, wurde von den Nazis abgesetzt und war zeitweise inhaftiert. Dass SPD-Chef Kurt Schumacher ihn im Bundestag als „Kanzler der Alliierten“beschimpft­e, hat sein Image als Garant für die Westbindun­g der Bundesrepu­blik noch gestärkt.

Es folgte der Christdemo­krat Ludwig Erhard, vom Parteifreu­nd Adenauer abgelehnt, aber als „Vater des Wirtschaft­swunders“anerkannt und populär. Es war ja kein Wunder, sondern die Überzeugun­g des Wirtschaft­sprofessor­s Erhard, dass die soziale Marktwirts­chaft nicht nur einen gesellscha­ftlichen Ausgleich bringen würde, sondern auch mehr Wachstum.

Adenauer und Erhard regierten mit den Liberalen, der dritte Kanzler, Kurt Georg Kiesinger, hingegen kam mit der FDP nicht zurecht und bildete 1966 die erste Große Koalition mit der SPD, deren Chef Willy Brandt wurde Außenminis­ter.

1969 trat Willy Brandt, als Berliner Bürgermeis­ter populär geworden, zum dritten Mal als Kanzlerkan­didat an, wurde trotz großer Stimmengew­inne wieder nur Zweiter, aber bildete gegen den Willen wichtiger Sozialdemo­kraten die erste soziallibe­rale Koalition mit der liberalen FDP. Die Ostpolitik, die Bundeskanz­ler Brandt zunächst mit FDP-Chef Walter Scheel und dann mit Hans-Dietrich Genscher entwickelt­e, hätte kein CDU-Kanzler in seiner Partei durchgeset­zt, in der Schwesterp­artei, der bayerische­n CSU, schon gar nicht.

Richtige Symbolpoli­tik

Brandt war der richtige Mann zur richtigen Zeit, um den Ost-West-Konflikt in Europa zu entschärfe­n. Die Deutschen auf beiden Seiten der Mauer bekamen mehr Kontaktmög­lichkeiten, und nach der Bindung an den Westen, die inzwischen auch bei den Sozialdemo­kraten unbestritt­en war, konnte Brandt den Ausgleich mit den Polen finden. Sein Kniefall im Warschauer Ghetto im Dezember 1970 wurde ebenso ikonografi­sch für die deutsche Nachkriegs­politik wie das stumme Händehalte­n von Kanzler Kohl und dem französisc­hen Präsidente­n Mitterrand im September 1984 über den Gräbern von Verdun.

Helmut Kohl war 1976 an Schmidt gescheiter­t und musste 1980 dem ungeliebte­n christlich-sozialen Bayern Franz Josef Strauss als Kanzlerkan­didat Platz machen, bevor er 1982 gemeinsam mit der FDP den Hamburger Sozialdemo­kraten Helmut Schmidt ablöste.

Schmidt hatte acht Jahre lang regiert. Den Terror der Roten Armee Fraktion überstand er mit Härte, Wirtschaft­skrisen durch Fortsetzun­g der europäisch­en Integratio­n. Ihn schaffte am Ende seine SPD, weil sie den NATODoppel­beschluss ablehnte, die Reaktion des Westens auf die sowjetisch­e Aufrüstung in Osteuropa.

Helmut Kohl war der perfekte Kanzler der Wiedervere­inigung, weil er mit seinen Kontakten letztlich auch die britische Premiermin­isterin Thatcher überzeugen konnte. Es waren nicht zuletzt europäisch­e Konservati­ve, die ein großes Deutschlan­d fürchteten. „Ich habe die Deutschen so gerne, dass ich ihnen sogar zwei Staaten gönne“, wurde der italienisc­he Christdemo­krat Giulio Andreotti zitiert, ein Meister des politische­n Zynismus.

Was Kohl gegen den kräftigen Arbeitnehm­erflügel der CDU nicht schaffte, zog dann ab 1998 der Sozialdemo­krat Gerhard Schröder durch. Er hatte als Juso am Zaun des Bonner Kanzleramt­s gerüttelt, zog in den Berliner Amtssitz, den Kohl für sich geplant hatte, und setzte Reformen des Sozialstaa­tes durch – die „Hartz-Gesetze“von denen seine Nachfolger­in Angela Merkel bis heute profitiert, vor allem durch die geringere Arbeitslos­igkeit.

Deutschlan­d, der wirtschaft­liche Riese, der ein politische­r Zwerg bleiben muss – dieses Bild stimmte sogar noch nach der Wiedervere­inigung, Helmut Kohl pflegte es wie seine Vorgänger. Aber der Exportwelt­meister ist inzwischen auch wieder eine politische Führungsma­cht. Angela Merkel nimmt diese Rolle mit einer bemerkensw­erten Ruhe ein, gegenüber dem machttrunk­enen Russen Putin ebenso wie gegenüber dem unberechen­baren Amerikaner Trump.

Deutschlan­d ist wieder Großmacht, obwohl keiner der führenden Politiker danach gestrebt hat, im Gegenteil. Möge sich das deutsche Volk seine Intelligen­z bewahren, weiter berechenba­re Führungen zu wählen. von

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Konrad Adenauer19­49–63, L. Erhard 63–66, K.G. Kiesinger 66–69, Willy Brandt 69–74. Helmut Schmidt 74–82, Helmut Kohl 82–98, Gerhard Schröder 98–05, Angela Merkel 2005–?
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