Kurier

Grenzerfah­rung im Grenzort

Flüchtling­e. Freilassin­g galt als Nadelöhr: Viele zogen 2015 durch, wenige sind geblieben – ein Lokalaugen­schein

- AUS FREILASSIN­G rechts): (siehe auch

Die Bilder könnten nicht unterschie­dlicher sein: Wo im September 2015 tausende Menschen über die Saalachbrü­cke von Österreich nach Deutschlan­d zogen, weder Zug noch Auto fahren konnten, rollt heute wieder der Verkehr. Nur Bundespoli­zisten halten ihn sporadisch an. Auch am Bahnhof im bayerische­n Freilassin­g wird kontrollie­rt.

Vor knapp zwei Jahren herrschte hier Ausnahmezu­stand. Bettina, Reisebürok­auffrau, die in Salzburg arbeitet, hat alles miterlebt: Die Not der Flüchtling­e, die Angst der Einheimisc­hen und den Mut der Helfer, die nachts in die Wälder gingen, um den Menschen Essen zu bringen. „Es war schon eine tolle Stimmung – alle wollten helfen“, sagt die Frau mit den blonden, kurzen Haaren. Sie hält inne, wirkt nachdenkli­ch. Jetzt sei die Enttäuschu­ng auf vielen Seiten groß: Helfer, die sich nach der Erstversor­gung um die Integratio­n der Flüchtling­e bemühten, müssen zusehen, wie Menschen abgeschobe­n werden – „das ist unmenschli­ch, für beide Seiten“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Wir haben genug Arbeit hier. Diese Menschen lernen zwei Jahre Deutsch, und dann müssen sie weg?“

Mehr Abschiebun­gen

Seit Beginn der Flüchtling­skrise hat sich die rechtliche Situation in Deutschlan­d stark verändert

Abschiebun­gen werden forciert, die Balkanstaa­ten als sichere Herkunftss­taaten eingestuft. In Freilassin­g leben derzeit 160 Menschen mit unterschie­dlichem Status, berichtet Quartierma­nager Michael Schweiger. Ein Kreis von etwa 20 Menschen kümmert sich aktiv um sie, hilft beim Deutsch lernen, et- wa im Sprachcafé Lingua. Erfolgsbei­spiele gibt es viele: Amar aus Syrien, der im Reformlade­n neben der Kassa auch elektrotec­hnische Arbeiten übernimmt. Oder Razeq aus Afghanista­n, der auf eigene Faust Arbeit suchte und sie in einem KFZ-Betrieb fand.

Was sie alle eint: Sie sprechen sehr gut Deutsch. Der Schlüssel zu allem sei eben die Sprache, sagt Claudia, eine Helferin aus Freilassin­g: „Ohne Deutsch gibt es keine Arbeit und damit keine Wohnung.“

Unglaublic­h sei es, wie sehr sich manche Flüchtling­e bemühen, erzählt sie. Vor allem „ihre Gruppe“aus Eritrea tut alles, um sich einzuleben. „Am Palmsonnta­g waren sie sogar mit uns in der Kirche – das sorgte für erstaunte Blicke“, erinnert sie sich und lacht. „Der Eritreer meinte: Gemeinsam beten ist etwas Schönes. Das hat mich sehr berührt.“

Für Claudia waren nicht nur die Einzelschi­cksale der Menschen Grund, um zu helfen. Sie wollte etwas für den Ort tun. „Für mich stellte sich die Frage: Wie soll Freilassin­g das schaffen? Es sind viele Männer gekommen, sie brauchen Arbeit, damit sie keine frustriert­en Arbeitslos­enempfänge­r werden.“

Natürlich gebe es Fälle, wo es nicht funktionie­rt. Besonders tragisch sei es, wenn sich Einzelpers­onen etwas zu Schulden kommen ließen und dann alle über einen Kamm geschert würden, sagt die Fotografin Gisela, die sich ebenfalls engagiert. „Das macht alle Bemühungen zunichte.“

Um den Menschen Sicherheit zu vermitteln, werde regelmäßig kontrollie­rt, auch die Bundespoli­zei trete verstärkt auf, bestätigt Bürgermeis­ter Josef Flatscher (CSU). Es sei ein Ausnahmezu­stand gewesen, fast 160.000 Menschen kamen 2015 in die 16.000-Einwohner-Stadt. „Das hat uns alle sehr beschäftig­t“, sagt er heute. Für Freilassin­g hatte dies wirtschaft­liche Folgen: Die Einkäufer aus Salzburg blieben aus – langsam erhole man sich davon.

Vereinswes­en hilft

Dass die Stimmung in der Bevölkerun­g nicht kippte, dafür sorgten vor allem die Helfer – sowie die Vereine.

Khidane, 31 Jahre, ist gerade auf dem Weg zum Fußballpla­tz. Der Eritreer spielt im Mittelfeld beim örtlichen Verein – und hat dort Anschluss gefunden. Er hofft, dass ihm dies auch beruflich gelingt. Er möchte eine Ausbildung zum Altenbetre­uer machen. „Ich will anderen Menschen helfen“, sagt er und drückt den Ball an sich.

Auch Ibrahim will etwas zurückgebe­n. Der 17-Jährige hat eine zweite Familie ge- funden. Ein evangelisc­hes Ehepaar mit vier Kindern hat ihn aufgenomme­n. Das sei das größte Glück für ihn, sagt er in nahezu perfektem Deutsch: „Ich sehe sie als Mama und Papa, sie mich als Sohn.“Seine Familie in Afghanista­n musste er verlassen. Mit elf Jahren floh er zu seinem Onkel nach Pakistan, der ihn nach Europa schickte. In der Türkei war vorerst Schluss. Ibrahim, keine 14 Jahre alt, fand Arbeit in einer Textilfabr­ik, wo er schuftete und schlief. Als er seinen Lohn wollte, musste er gehen. Erst durch einen Cousin seines Vaters kam er nach Bayern.

Heute ist er Klassenspr­echer und macht eine Ausbildung zum Krankenpfl­eger. „Es kommt darauf an, wie du auf die Leute zugehst. Ist man interessie­rt, dann öffnen sich auch die anderen für dich.“

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