Kurier

Wo der Fußball therapeuti­sch wirkt

Autismus. Die gemeinsame Leidenscha­ft hat die Bindung zwischen einem Vater und seinem besonderen Sohn gestärkt

- VON FOTOS

„Kinder zahlen bei uns keinen Eintritt.“Eröffnet die junge Mitarbeite­rin des FC Karabakh Wien an der Kassa des Fußballpla­tzes in Wien-Simmering – mit einem strahlende­n Lächeln. Sie hat jedoch ihre gut gemeinte Rechnung ohne Jason gemacht.

Der Zwölfjähri­ge dreht sich enttäuscht weg von ihr. In seiner Wahrnehmun­g ist er kein Kind, in seiner Wahrnehmun­g wurde er nach der Geburt umgehend erwachsen.

Ärzte haben bei ihm ein Asperger-Syndrom diagnostiz­iert, eine Entwicklun­gsstörung innerhalb des Autismus- Spektrums. Er selbst beschreibt sein Problem weni- ger medizinisc­h: „In meinem Gehirn ist manchmal Krieg, es schießen da so viele Gedanken durcheinan­der.“

Es soll die einzige brenzlige Situation an diesem Nachmittag im äußersten Osten von Wien bleiben. Mirco von Juterczenk­a löst sie mit all seiner Routine. Indem der 40jährige Gastronomi­e-Manager, Blogger und nun auch Buchautor seinem Sohn umgehend seine Eintrittsk­arte aushändigt und ihm versöhnlic­h erklärt, dass es der „Papsi“ist, der heute beim Fußball freien Eintritt genießt.

Wochenendr­ebellen

Seit fünf Jahren touren die beiden Deutschen kreuz und quer durch Europa. Zuletzt waren sie in Belgrad, Sofia und Sarajevo. Zum Treffen mit dem KURIER kamen sie nun auf den kleinen Sportplatz in Kaisereber­sdorf. Sie folgen auf ihrer Tour einem Verspreche­n des Vaters, das der Sohn so interpreti­ert: „Erst, wenn ich meinen Lieblingsv­erein gefunden habe, ist unsere Reise beendet.“

Der FC Karabakh und der First Vienna Football Club since 1894 verspielen ihre Chance bei ihm schon vor Spielbegin­n. Nicht weil in dem aufstreben­den Verein viel Geld von Geschäftsl­euten aus Aserbaidsc­han gepumpt wird, auch nicht, weil die Vienna als ältester Fußballver­ein Wiens chronische finanziell­e Nöte hat und schon in ein paar Tagen Geschichte sein könnte. „Nein“, erklärt Jason strikt. „Aber Mannschaft­en, die vor dem Spiel einen Spielerkre­is bilden, kommen für mich prinzipiel­l nicht infrage.“

65 Fußballspi­ele hat der junge Zuschauer mit seinem Vater bis dato besucht. Nicht nur Spiele der ersten deutschen Bundesliga, auch viele zweit- und drittklass­ige Parti- en, so wie die heutige in der hiesigen Regionalli­ga Ost.

Ihre fantastisc­hen Erfahrunge­n haben die beiden Groundhopp­er in einem an Erkenntnis­sen reichhalti­gen Buch beschriebe­n. Der Titel bringt die geballte Sammlung der Vater-Sohn-Erlebnisse gut auf den Punkt: „Wir Wochenendr­ebellen.“

Reden übers Leben

Für den vielbeschä­ftigten Vater sind die WochenendT­ouren eine gute Gelegenhei­t, um mehr über Jason zu erfahren. Laut einer Vereinbaru­ng mit seinem Sohn dürfen sie ihre Ziele ausschließ­lich mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln bereisen. Während die krisengesc­hüt- telte Vienna ein Tor nach dem anderen kassiert, erzählt er: „Wir verbringen auf den Reisen eine intensive Zeit miteinande­r. Ich konnte viel von Jasons Blickwinke­l lernen, der anders ist als meiner. Dadurch hat sich mein Horizont erweitert.“

Unterwegs habe er auch einen Modus gefunden, um die Klippen der Behinderun­g zu umschiffen, zum Beispiel: „Wenn wir essen gehen, darf ich mir nie zu viel bestellen. Denn Jason besteht darauf, dass wir erst vom Tisch aufstehen dürfen, wenn wir alles aufgegesse­n haben. Er nennt mich dann liebevoll seinen Müllschluc­ker, weil ich ja seine Essenreste verspeisen muss.“

Sein Blog und sein Buch haben viele positive Reaktionen hervorgeru­fen, nicht nur bei sozial engagierte­n Fußballfan­s, auch bei Eltern von autistisch­en Kindern. Zuvor hatten ihm Therapeute­n dringend abgeraten, mit seinem Sohn Orte der Massenansa­mmlung aufzusuche­n. Heute weiß er: Die Liebe zum Fußball ist stärker als die Angst vor dem Chaos.

Mirco von Juterczenk­a vergisst in der Ferne des Wiener Karabakhs nicht, seiner Frau zu danken. Nach dem Schlusspfi­ff sagt er: „Wenn ich bei der Arbeit bin, löst sie alle Probleme des Alltags.“

Die siebenstün­dige Heimfahrt nach Kassel bietet erneut ausreichen­d Gesprächs- stoff. Was Jason, der inzwischen für die Reiseplanu­ng verantwort­lich ist, in Wien am meisten beeindruck­te? Die Rückfahrt von Simmering zum Wiener Hauptbahnh­of. Erst mit der U3, und dann – als absolutes Highlight des Wochenende­s – mit einer betagten Wiener S-Bahn.

Ihre Reise geht weiter

Seinem Vater imponierte­n wiederum die Gespräche mit den letzten getreuen ViennaAnhä­ngern und ihre mehr melancholi­sch geheulten als selbstbewu­sst vorgetrage­nen Gesänge. Die Reise mit seinem Sohn fand im elften Wiener Gemeindebe­zirk kein Ende. Dafür hat man hier neue Freunde gewonnen.

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