Kurier

Tschetsche­nische Parallelwe­lten

Integratio­n. Maynat Kurbanova über eine verlorene Generation und ein Image, das zur Identitäts­krise führt

- VON MICHAELA REIBENWEIN

Maynat Kurbanova war Kriegsberi­chterstatt­erin. Sie hat studiert, ist viel gereist. Heute ist sie „Tschetsche­nin von Beruf “. Das sagt sie selbst. Denn immer dann, wenn ihre Landsleute negative Schlagzeil­en machen, nehmen Medien mit ihr Kontakt auf. Dann muss sie erklären, wie „die Tschetsche­nen“ticken.

Kurbanova trägt einen knielangen Rock, hat die Haare offen. „Frauen, die sich so kleiden wie ich, sind unsichtbar. Sichtbar sind diejenigen, die einen schwarzen Niqab tragen“, meint sie.

Schutzschi­ld

Tschetsche­nische Frauen, die in Österreich aufgewachs­en sind, kleiden sich oft strenger als die in Tschetsche­nien. „Das haben sie hier für sich entdeckt, um sich zu schützen, sich abzukapsel­n.“Kontakt zur Außenwelt vermeiden sie. „Sie leben unter ihren Landsleute­n in ihrem Bezirk. Die Wiener Innenstadt haben viele noch nie gesehen.“Meist leben sie am Existenzmi­nimum. Der Islam sei ein wichtiger Teil der Identität. „Ahnung davon haben aber nur wenige. Es ist eben gerade sehr in, Muslim zu sein.“

Die Polizei hat „auffallend oft mit Tschetsche­nen zu tun“, sagt Andreas Holzer, Leiter der Abteilung für organisier­te Kriminalit­ät im Bundeskrim­inalamt. Rund 30.000 Tschetsche­nen leben in Österreich. Im Vorjahr wurden der Volksgrupp­e 3200 Straftaten angelastet.

Das umfasst Mafia-Strukturen, Schutzgeld-Erpressung­en, Jugendband­en – wie die „Goldenberg­s“. Natürlich gebe es auch Kriminelle unter den Tschetsche­nen, sagt Kurbanova. „Aber die Mehrheit lebt ein ganz normales Leben“, meint sie.

Kurbanova kümmert sich um jene, die auffallen. Sie fährt regelmäßig in die Justizanst­alt Gerasdorf, um straffälli­g gewordene junge Tschetsche­nen zu betreuen. Und sie engagiert sich im Verein „Netzwerk tschetsche­nischer Mütter“– hier sucht man Wege gegen die Radikalisi­erung der jungen Männer. „Mütter haben die meiste Macht in der Familie. Aber sie brauchen ein Werkzeug, um mit den jungen Männern zurecht zu kommen.“

Es sind die Folgen der Kriege, gegen die sie kämpfen. „Wenn du 1980 geboren wurdest, bist du im Krieg groß geworden. Die Menschen hatten wenig Chancen, eine Schule zu besuchen oder abzuschlie­ßen. Diese Generation hat Lücken, sie findet sich nicht zurecht.“Der Krieg habe eine ganze Gesellscha­ft zerstört. „Wenn du immer nur hörst, dass du ein Terrorist bist, wirst du einer.“Das Volk sei der Sündenbock für die ganze Welt.

„Hart und böse“

Speziell junge Burschen hätten ein Problem mit ihrer Identität. „Was erwartet man von einem jungen Tschetsche­nen? Dass er hart und böse ist. Dass er zuschlägt.“Sie beobachte, dass manche Burschen unbewusst alles tun würden, um diesem Bild zu entspreche­n. „Sie fühlen sich ausgegrenz­t.“Bei der Wohnungs- und Jobsuche hätten sie es schwer.

Die meisten der Burschen, die sie in der Justizanst­alt betreut, haben keine Väter. „Die sind entweder gefallen oder sie haben sich von der Familie getrennt. Solche Burschen sind leicht zu manipulier­en. Die braucht man nur in den Parks anzusprech­en.“

Lösung sieht sie nur eine: „Man muss diesen Menschen entgegen kommen. Bei vielen wird das funktionie­ren. Die Sehnsucht, sich zu öffnen, ist groß.“

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Jugendband­en wie die „Goldenberg­s“tragen zum schlechten Ruf bei
 ??  ?? Kurbanova war Journalist­in. Heute ist sie „Tschetsche­nin von Beruf“. Sie betreut unter anderem straffälli­g gewordene Jugendlich­e
Kurbanova war Journalist­in. Heute ist sie „Tschetsche­nin von Beruf“. Sie betreut unter anderem straffälli­g gewordene Jugendlich­e

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