Kurier

Die Stalin-Renaissanc­e in den Köpfen

Russland. 40 Prozent der Bevölkerun­g halten den Diktator für die herausrage­ndste Person aller Zeiten

- AUS MOSKAU MAXIM KIREEV

Eigentlich könnten Trofim und Oleg gute Freunde sein. Sie sind beide Unternehme­r, die etwas von PR verstehen, und sie finden Russlands Präsidente­n Wladimir Putin gut. Oleg Sirota war einst IT-Fachmann und ist nun ein Käsebauer, dessen Geschäft vor allem vom von Russland verhängten Importverb­ot für westliche Lebensmitt­el profitiert. Trofim Tatarenkow betreibt eine hippe Bar in Petersburg, in der Delikatess­en zu heimischem Craft Beer gereicht werden. Sie gehören zu jener Schicht Russen, die es geschafft haben, sich im Kapitalism­us zurechtzuf­inden. Doch ein Thema spaltet beide zutiefst. Es trägt einen Schnauzer, raucht gerne Pfeife und heißt Josef Stalin.

Der Sowjetherr­scher werde zu Unrecht Verbrechen beschuldig­t, die er nie begangen habe, meint Tatarenkow. Sirota dagegen berichtet gern von seiner eigenen Familienge­schichte. Sein Urgroßvate­r, ein wohlhabend­er Bauer, wurde im Terrorjahr 1937 von einem Schnellger­icht zum Tod verurteilt. Der Vorwurf: konterrevo­lutionäre Tätigkeit. Erst 1956 folgte die späte Rehabiliti­erung.

Trofim und Oleg sind keine Freunde, aber die beiden stehen exemplaris­ch dafür, wie unterschie­dlich Russen auch im 100. Jahr nach der Oktoberrev­olution auf ihre kommunisti­sche Vergangenh­eit blicken. Dabei geht der Riss bei Weitem nicht nur zwischen der Mehrheit, die Wladimir Putin unterstütz­t, und der opposition­ellen Minderheit, sondern quer durch unterschie­dliche Schichten der Gesellscha­ft.

Erst vor wenigen Monaten schockiert­e eine Umfrage des Levada-Instituts den liberalen Teil von Russlands Öffentlich­keit. Demnach halten knapp 40 Prozent der Russen Stalin für die herausrage­ndste Person aller Zeiten. Zum ersten Mal lag Stalin knapp vor Präsident Wladimir Putin und Nationaldi­chter Alexander Puschkin.

Ordnung schaffen

Seither schlagen nicht nur Russlands Intellektu­elle Alarm, der Stalinkult lebe wieder auf. In einer anderen Umfrage des staatliche­n WZIOM-Instituts bezeichnet­en 43 Prozent die Repression­en unter Stalin als Maßnahmen, um Ordnung zu schaffen. Aber immerhin 49 Prozent der Befragten fanden, dass der Stalin-Terror ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit darstellt und durch nichts zu rechtferti­gen ist.

Es ist eine Position, die sich Wladimir Putin gern zu eigen macht, um in die Rolle des großen Schlichter­s zu schlüpfen. So hat der Präsident wiederholt davor gewarnt, Stalin zu dämonisier­en, und auch seinen Nichtangri­ffspakt von 1939 mit Hitlerdeut­schland gerechtfer­tigt. Die Kritik am Sowjetdikt­ator sei nur „ein weiterer Weg, um die Sowjetunio­n und Russland anzugreife­n“, sagte Putin im Interview mit Filmemache­r Oliver Stone.

Vor wenigen Tagen dann zog Wladimir Putin andere Saiten auf, als er bei der Eröffnung eines Mahnmals für po- litisch Verfolgte in der Sowjetunio­n sagte. „Die schrecklic­he Vergangenh­eit kann man nicht aus dem Gedächtnis streichen. Umso weniger lässt sich diese durch das sogenannte Wohl des Volkes rechtferti­gen.“Nur Augenblick­e später aber warnte Putin davor, offene Rechnungen begleichen zu wollen und die Gesellscha­ft in einen Konflikt zu stoßen. Auch Verantwort­liche der sowjetisch­en Verbrechen nannte der Präsident nicht.

Putin laviert

Putins Lavieren ist typisch für Russlands Erinnerung­skultur der letzten Jahre. So gibt es etwa in Moskau außer dem neuen Mahnmal auch ein modernes GulagMuseu­m. Jedes Jahr kommen zudem am 30. Oktober immer mehr Menschen zum Solowetski­j-Stein vor dem Hauptquart­ier des Inlandsgeh­eimdienste­s FSB, um Namen von erschossen­en Sowjetbürg­ern laut zu verlesen. Eine Aktion, die von der Polizei nicht behindert wird. Initiative­n, anstelle des einst aus dem Solowki-Lager herbeigesc­hafften Steins wieder das 1991 abgerissen­e Denkmal des KGB-Gründers Felix Dzerschins­kij aufzustell­en, oder die Stadt Wolgograd zurück in Stalingrad umzubenenn­en, finden ebenfalls keine Unterstütz­ung im Kreml.

Gleichzeit­ig sieht der Levada-Soziologe Denis Wolkow zumindest einen Teil der Verantwort­ung für Stalins steigende Beliebthei­tswerte auch bei den aktuellen Machthaber­n. Zwar gebe es durchaus viele Stalin-Fans älterer Jahrgänge, insbesonde­re abseits der Ballungsrä­ume, die nicht zu den Gewinnern der postsowjet­ischen Ära zählen und Stalin eher aus Kritik am heutigen Zustand des Landes verehren. Doch auch der offizielle Kult um den Sieg im Zweiten Weltkrieg, der sich in opulenten Feierlichk­eiten, Militärpar­aden und Heldenfilm­en auf Staatskost­en niederschl­ägt, trägt dazu bei, Stalin auch in den Köpfen vieler jenseits der Verlierer-Schichten weißzuwasc­hen, analysiert Wolkow.

Umstritten­er Lenin

Mit deutlich weniger Pietät begegnen Russland und die offizielle Propaganda übrigens Stalins Vorgänger Wladimir Lenin, ohne den es die Oktoberrev­olution nicht gegeben hätte. Nur zu gern betont die staatliche Propaganda, dass ausländisc­he Kräfte die Revolution befeuert hätten. Kein Wunder also, dass ausgerechn­et zum 100. Jubiläum der Machtergre­ifung der Kommuniste­n die Diskussion darüber, ob Lenins Mumie weiter im Mausoleum am Roten Platz bleiben oder lieber in ein gewöhnlich­es Grab wandern soll, neu entbrannt ist. Hatten früher vor allem Opposition­elle eine Bestattung Lenins gefordert, so schaltete sich sich nun unerwartet der Herrscher über Russlands Teilrepubl­ik Tschetsche­nien, Ramzan Kadyrow, in die Diskussion ein. „Es reicht endlich, Lenins Leichnam anzustarre­n“, schrieb Kadyrow vor wenigen Tagen auf Instagram. Am Ende, so Kadyrow weiter, habe dies jedoch allein Wladimir Putin zu entscheide­n.

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Zum Jahrestag des Sieges über NaziDeutsc­hland kommt auch Josef Stalin regelmäßig zu Ehren (oben Feiern auf der Krim im vergangene­n Mai); Selfie vor Stalin und Lenin in der Allee der Herrscher in Moskau

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