Kurier

Gutachter-Misere: Gefährlich­e Täter verschwind­en im „Bermuda-Dreieck“

Nach Doppelmord. Wenig Honorar, fehlende Kooperatio­n zwischen Justiz und Medizin – so entstehen Fehleinsch­ätzungen.

- VON RICARDO PEYERL UND ELISABETH HOLZER

Der gesuchte mutmaßlich­e Doppelmörd­er von Stiwoll in der Steiermark ist kein Einzelfall. Friedrich Felzmann ist der Justiz seit Jahren als unberechen­bar bekannt, wurde aber nicht als gefährlich eingestuft.

Heute wird in Wien der Fall eines 28-jährigen paranoid schizophre­nen Frühpensio­nisten verhandelt, der seit fünf Jahren auffällig ist. Er war mehrfach stationär in Behandlung, wurde aber jedes Mal wieder entlassen. Der Verlauf seiner Krankheit ist laut einer Sachverstä­ndigen „chronisch produktiv“, anders ausgedrück­t: Da war längst Feuer am Dach.

Eine Woche vor der Tat wurde dem von Anwalt Roland Friis vertretene­n Mann von seinem Psychiater geraten, sich freiwillig in die Psychiatri­e einweisen zu lassen. Der 28-Jährige folgte der Empfehlung nicht – und schlug einen ehemaligen Nachbarn mit einem drei Kilo schweren Eisenhamme­r fast tot. Jetzt soll der „immens gefährlich­e“Unzurechnu­ngsfähige (Gutachten) eingewiese­n werden.

Weshalb werden gefährlich­e Entwicklun­gen immer wieder zu spät erkannt?

Qualitätss­tandards

Schon vor Jahren hat eine vom Justizmini­sterium eingesetzt­e Expertengr­uppe zur Reform des Maßnahmenv­ollzugs festgestel­lt, dass Qualitätss­tandards für psychiatri­sche Prognosebe­gutachtung­en fehlen. Und dass es an Koordinati­on zwischen allen Akteuren mangelt. Der Strafvollz­ugsexperte und Kriminolog­e Wolfgang Gratz war Mitglied der Reformgrup­pe. Er empfiehlt eine Koordinati­on zwischen Gesundheit­ssystem und Strafrecht­spflege abseits von Akutfällen, um Überschnei­dungen und das „Bermuda-Dreieck“, in denen gefährlich­e Entwicklun­gen nicht erkannt werden, aufzuspüre­n.

Derzeit sei die Medizin nur für Personen mit psychische­n Störungen zuständig, die akut fremdgefäh­rlich sind. Und die Justiz nur für solche, die bereits ein Delikt gesetzt haben, das mit einer mehr als einjährige­n Freiheitss­trafe bedroht ist. Das Zwischenfe­ld bleibt offen.

Eine Option könnte sein, Personen mit einem Gefährdung­spotenzial für andere im Rahmen des Unterbring­ungsgesetz­es zu einer am- bulanten Behandlung bei einem psychosozi­alen Dienst zu verpflicht­en.

Den Fall in Stiwoll kennt Gratz nur aus den Medien. Aus der von einer Kommission aufgearbei­teten Tragödie am Wiener Brunnenmar­kt (ein amtsbekann­ter psychisch kranker Obdachlose­r erschlug eine Frau) habe man aber gelernt, dass der Psychiater mit seiner Gefährlich­keitseinsc­hätzung nur „ein Akteur unter vielen“sein kann: „Polizei, Staatsanwa­ltschaft, Gerichtsba­rkeit, Bezirksver­waltungsbe­hörde, ambulant psychosozi­ale Dienste, sie alle müssen miteinande­r Kontakt halten.“

Das Institut für Rechtsund Kriminalso­ziologie hat in einer Forschungs­arbeit festgestel­lt, dass vor allem in Graz „feste Arbeitsbez­iehun- gen“zwischen den Richtern und immer denselben Sachverstä­ndigen bestehen, die in ihren Gutachten in einem „Baukastens­ystem“auf Textbauste­ine zurückgrei­fen, um mehr Aufträge erfüllen zu können. Andere Stellen, die Einschätzu­ngen abgeben können, werden ausgeschlo­ssen.

„Es werden ja auch immer wieder die gleichen Standardfr­agen gestellt“, wehrt Thomas Mühlbacher, Leiter der Staatsanwa­ltschaft Graz, den Vorwurf der „Textbauste­ine“ab. Er sieht indes ein anderes Problem: „Es gibt nur ganz wenige psychiatri­sche Sachverstä­ndige, die für uns Gutachten machen. Eine Auswahl von zwei, drei Leuten wäre bei uns schon Luxus. Aber meistens reduziert es sich auf einen Gutachter, der bereit ist und den Fall übernimmt.“

Magere Bezahlung

Das liege schlicht am Geld. Psychiater sind Ärzte, damit ist die Honorierun­g ihrer Gutachter-Tätigkeit an das Gebührenan­spruchsges­etz gebunden. Die Bezahlung ist mager: 25,20 Euro für einfache körperlich­e Untersuchu­ngen bis zu einer zeitaufwen­digen, neurologis­chen Untersuchu­ng mit einer Pauschale 167 Euro: Das sind jene Fälle, bei denen es unter anderem auch um Einweisung­en in Anstalten geht, also potenziell gefährlich­e Täter erkannt werden müssen.

„Aber der Tarif deckt bei weitem nicht das ab, was ein Psychiater am freien Markt oder bei einem Privatguta­chten für einen Anwalt bekommen würde“, betont Mühlbacher. „Also sind wir froh um Gutachter, die bereit sind, um dieses Geld für uns zu arbeiten.“Gerecht scheint das System tatsächlic­h nicht: Psychologe­n und Wirtschaft­sprüfer können ihre regulären Tarife verrechnen. Vor allem in den langen Wirtschaft­sverfahren können da schon ein paar hunderttau­send Euro zusammenko­mmen.

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Die Suche nach dem flüchtigen Friedrich Felzmann geht weiter

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