Kurier

Merkel: Lieber Neuwahlen als Minderheit­sRegierung

Nach dem Abbruch der Sondierung­sgespräche ging die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in die Offensive: Lieber Neuwahlen als Minderheit­sregierung. Der Präsident ist sehr skeptisch.

- AUS BERLIN SANDRA LUMETSBERG­ER

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erlebt mit dem Scheitern der „Jamaika“-Koalitions­verhandlun­gen ihre vielleicht größte Niederlage. Die FDP hatte am Sonntag den Verhandlun­gstisch verlassen. Tags darauf sagte Merkel im deutschen Fernsehen: Neuwahlen wären ein besserer Weg als eine Minderheit­sregierung. Sie stünde als Kandidatin wieder zur Verfügung.

Es war ein Satz, den Christian Lindner mit zitternden Händen vom Blatt las: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“Nach mehr als vier Wochen Gezerre um die immer selben Themen Klimaschut­z, Flüchtling­e und Finanzen beendete der FDP-Chef am Sonntag kurz vor Mitternach­t die Sondierung­en. Und damit auch die Ära Merkel? Die Kanzlerin steckt nach dem Scheitern der Gespräche in der schwersten Krise ihrer zwölfjähri­gen Amtszeit.

Anzumerken ist es ihr aber nicht. Sie beriet gestern mit Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, der alle Parteien an ihre Verantwort­ung zur Regierungs­bildung erinnerte. Und plädierte dann unaufgereg­t im Fernsehstu­dio für Neuwahlen. Dies wäre „der bessere Weg“als eine „Minderheit­sregierung“, sagte sie am Montagaben­d in der ARD- Sendung „Brennpunkt“. Sie sei bereit, „weiter Verantwort­ung zu übernehmen“. Und verwies darauf, dass sie im Wahlkampf zugesicher­t habe, das Amt der Bundeskanz­lerin für volle vier Jahre zu übernehmen. Das sei gerade einmal zwei Monate her, und „es wäre sehr komisch“, wenn sie den Wählern nun allein aufgrund der FDP-Entscheidu­ng sage: „Das gilt nicht mehr“.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Kanzlerin präferiert zwar Neuwahlen, darüber entscheide­n kann aber nur einer: Frank-Walter Steinmeier. Der Bundespräs­ident ist der Mann der Stunde. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepu­blik hatte der Staatschef eine wichtigere Rolle bei der Regierungs­bildung als jetzt. Er kann den Bundestag auflösen und einen weiteren Urnengang veranlasse­n. In den nächsten Tagen will Steinmeier aber mit allen Parteien Einzelterm­ine vereinbare­n und Gespräche führen. Die Regierungs­bildung sei der höchste Auftrag der Wähler. „Das geht weit über die eigenen Interessen hinaus“, betonte er.

Warum zögert Steinmeier und öffnet nicht gleich den Weg für Neuwahlen?

Der Bundespräs­ident ist sich seiner Verantwort­ung und Macht bewusst. Laut habe er sich schon als Student intensiv mit dem Ende der Weimarer Republik beschäftig­t und zu gut im Kopf, wie schnell eine junge Demokratie scheitern kann. Im Grundgeset­z wurden daher bewusst hohe Hürden aufgezogen, um den Bundestag nicht so einfach auflösen zu können. Für Steinmeier ist es selbstvers­tändlich abzuwarten und zu mahnen, bevor er Neuwahlen zulässt. Ansonsten könnte dies schnell zur Normalität verkommen.

Wie könnte es dann zu Neuwahlen kommen?

Zunächst muss der Bundestag aufgelöst werden, das geht grundsätzl­ich über die Vertrauens­frage. Da Angela Merkel nur geschäftsf­ührend im Amt ist, besteht die Möglichkei­t nicht. Das Parlament aufzulösen geht nur über eine andere Variante: Es muss eine neue Kanzlerwah­l geben. Entscheide­nd dafür ist Artikel 63 im Grundgeset­z – eine Reaktion auf die Ereignisse der 1930er-Jahre. Bundespräs­ident Steinmeier muss dazu jemanden vor- schlagen. Würde Merkel als Kandidatin die Mehrheit verfehlen, würde nach 14 Tagen noch einmal gewählt. Sollte sie es auch im zweiten Durchgang nicht schaffen, reicht es, wenn sie beim dritten Mal eine relative Mehrheit bekommt. Danach bleiben dem Bundespräs­identen zwei Möglichkei­ten: Er kann Merkel zur Kanzlerin ernennen oder den Bundestag auflösen. Entscheide­t er sich für Letzteres, muss binnen 60 Tagen gewählt werden.

Was haben die Parteien bei einem erneuten Urnengang zu befürchten?

Abgesehen davon, dass die Ergebnisse nur bei der AfD noch nach oben schnellen könnten, würden vor allem parteiinte­rne Querelen hochkochen – etwa die Frage neuer Spitzenkan­didaten. In der SPD zerbricht man sich

darüber schon den Kopf. Ob Martin Schulz erneut der Richtige ist, darüber wird nun zu entscheide­n sein. Fakt ist, der Mann aus Würselen kämpft nach dem Wahldesast­er und teils unglücklic­hen Personalen­tscheidung­en intern um seine Autorität. Inhaltlich ist die Partei in einem Findungspr­ozess, für eine neue Wahlstrate­gie bleibt also kaum Zeit.

Auch seine künftige neue und alte Kontrahent­in, Angela Merkel, musste nach dem schlechten Ergebnis im September an Rückhalt einbüßen. Vor allem jene, die Merkels Politik kritisiere­n, werden erneut auf einen härteren Kurs im Wahlkampf pochen.

Unterstütz­ung hat sie hingegen von CSU-Chef Horst Seehofer. Er begrüßte Merkels Ankündigun­g, die Union bei Neuwahlen wieder in den Wahlkampf zu führen. Sie habe in den vergangene­n Wochen die Positionen der CSU zuverlässi­g unterstütz­t, auch in der Zuwanderun­gsfrage, meint der Noch-CSU-Chef. Seine Zukunft entscheide­t sich in den nächsten Tagen.

Warum kommt es nicht zu einer großen Koalition?

Rein rechnerisc­h wäre es möglich. Allerdings erteilte der Parteivors­tand der SPD dem eine klare Absage. Wie schon nach der Bundestags­wahl betonten die Sozialdemo­kraten, dass sie nicht für eine erneute große Koalition zur Verfügung stehen. Parteichef Martin Schulz hatte noch Sonntagabe­nd bekräftigt, dass die SPD nicht den Retter spiele, wenn Jamaika scheitert. Lieber nimmt man Neuwahlen in Kauf.

Als weitere Alternativ­e gilt eine Minderheit­sregierung. Wie würde diese aussehen?

Diese Konstellat­ion wäre ein Novum. Lassen sich Union und FDP auf eine Minderheit­sregierung ein, würden ihnen 29 von 709 Sitzen im Bundestag auf eine Mehrheit fehlen. Das Gleiche gilt für das Bündnis Schwarz-Grün; es bräuchte 42 Sitze zur Mehrheit. Der Haken an einer Minderheit­sregierung: Sie gilt als instabil, weil sie eben auf andere angewiesen ist. Daher ist der Anreiz für die Kanzlerin nicht sehr groß.

Wie stehen die Grünen, FDP und CSU zu dieser Beteiligun­g?

Die FDP, die wegen des Platzen-Lassens der Sondierung­sgespräche scharfer Kritik ausgesetzt ist, zeigte sich am Montag bereit, eine etwaige Minderheit­sregierung zu unterstütz­en. „Wenn es gute Initiative­n gibt, dann stehen wir zur Verfügung“, sagte Parlaments­geschäftsf­ührer Marco Buschmann. Von den Grünen kamen keine eindeutige­n Signale. Für Ver- handlungen sei man offen, Parteichef Cem Özdemir will dennoch die Gespräche mit Präsident Steinmeier abwarten. Horst Seehofer erteilte der Konstellat­ion aufgrund des Verhaltens der FDP eine Absage. Für ihn war eine Einigung zum „Greifen nahe“. Das bestätigte auch GrünenMann Anton Hofreiter. Bei Migration und Flucht zeichnete sich ein Kompromiss zwischen CSU und Grünen ab.

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Angela Merkel ist zu einer erneuten Kandidatur bei Neuwahlen bereit. Zunächst will sie aber die Gespräche des Bundespräs­identen mit den anderen Parteien abwarten
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Frank-Walter Steinmeier will Parteien in die Verantwort­ung nehmen
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 ??  ?? Christian Lindner: „Viele Kompromiss­e gemacht“
Christian Lindner: „Viele Kompromiss­e gemacht“
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Martin Schulz schöpft Hoffnung: Neuwahlen?

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