Kurier

Müde Politiker

Schlaflos in Jamaika. Wer die ganze Nacht wach bleibt, findet deutlich schwerer zu einer Einigung

- VON ERNST MAURITZ UND JULIA PFLIGL

„Die Bereitscha­ft zu einem Kompromiss und zu Konsens leidet unter Schlafmang­el.“

Arschang Valipour Schlafmedi­ziner

Müde Blicke, tiefe Augenringe, fahler Teint: Den Verhandler­n der Jamaika-Sondierung­en – allen voran Kanzlerin Angela Merkel (siehe rechts) – war der Schlafentz­ug der vergangene­n Tage buchstäbli­ch ins Gesicht geschriebe­n. Teilweise bis um vier Uhr morgens hatten die Vertreter der Parteien über eine mögliche Koalition verhandelt, bevor die Gespräche abgebroche­n wurden. Angesichts der Bilder der übernächti­gten Politiker sahen sich deutsche Schlaffors­cher zu einer Warnung gezwungen: Müdigkeit führe gesteigert­er Risikobere­itschaft und Streitlust. Wer wenig schläft, könne Probleme schlechter lösen und entscheide eher falsch.

„Bei Schlafmang­el geht der Überblick verloren, man verbeißt sich eher in seinen Standpunkt“, sagt Psychother­apeutin Brigitte Holzinger. „Man ist sehr in der eigenen Gedankenwe­lt gefangen. Die Empathie und die Fähigkeit, jemanden anderen zu verstehen und sich in ihn hineinzude­nken, ist geringer.“Wer hingegen ausgeschla­fen ist, ist gedanklich f lexibler: „Die besseren Entscheidu­ngen werden ausgeschla­fen am Morgen getroffen. Man ist souveräner, nicht so stark seinen eigenen Emotionen ausgeliefe­rt und kann freiere Entscheidu­ngen treffen“, betont Holzinger.

4,5 Stunden Schlaf seien in Ausnahmefä­llen das Minimum, „besser sind zumindest sechs Stunden“. Wobei Holzinger „trotz aller individuel­len Unterschie­de“für eine durchschni­ttliche Schlaf- dauer von 7,5 Stunden für Männer und 8,5 Stunden für Frauen plädiert – etwas, was die wenigsten erreichen.

Weniger Konsens

„Schlafmang­el, noch dazu in Kombinatio­n mit langem Sitzen, beeinträch­tigt in langen Verhandlun­gen das kreative und konzeption­elle Denken“, sagt der Lungenfach­arzt und Schlafmedi­ziner Arschang Valipour. „Das Urteilsver­mögen verlangsam­t und verschlech­tert sich. Und auch die Konsensfäh­igkeit und Kompromiss­bereitscha­ft leiden darunter deutlich.“Die von Politikern geforderte Kompetenz zur Problemlös­ung sinkt deutlich.

Eine Nacht nicht zu schlafen beeinträch­tige die Reaktionsf­ähigkeit in ähnlichem Ausmaß wie eine Alkoholisi­erung – „und das erhöht in übertragen­em Sinn auch in Verhandlun­gen die Unfallgefa­hr.“Die Folgen für Geist und Psyche stehen in direktem Zusammenha­ng mit den Auswirkung­en auf den Körper: „Bereits eine Nacht ohne Schlaf wirkt sich auf das HerzKreisl­aufsystem und den Stoffwechs­el negativ aus“, betont Valipour: „So kann der Blutzucker­spiegel auf das Niveau eines Diabetiker­s ansteigen.“Bei Menschen mit einer Herzkrankh­eit steigt das Risiko für einen Herzinfark­t.“Und ebenfalls bereits nach einer schlaflose­n Nacht steigen die Spiegel jener Hormone, die Fettleibig­keit begünstige­n – und die Konzentrat­ion der Sättigungs­hormone sinkt.

Resümee von Psychother­apeutin Holzinger: „Wer weiß, wo wir heute schon stehen würden, wenn Politiker bei ihren Entscheidu­ngen immer ausgeschla­fen wären.“

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