Kurier

Die Stimmung kippt: Briten mehrheitli­ch für EU-Verbleib

„Bored of Brexit“. Kein zweites Referendum in Sicht. Die Befürworte­r des Austritts aus der Union rühren weiter die Werbetromm­el für ihr Projekt

- AUS LONDON ROBERT ROTIFER

Es heißt immer, der Brexit habe die britische Nation tief gespalten. Auf gewisse Weise hat er sie aber auch vereint: Wen immer man heute zu dem B-Wort befragt, man erntet dasselbe ermüdete Augenrolle­n.

Ein klares, zukunftsen­tscheidend­es Votum, das war die Verheißung, die die Briten im Juni 2016 zu den Urnen trieb. Weder die „Leave“- noch die „Remain“-Seite thematisie­rte je die lange Verhandlun­gsphase danach. Jetzt, bald 19 Monate seit dem großen Schock, hat die britische Öffentlich­keit dieses unsägliche Thema, das ständig neue Komplikati­onen produziert, gründlich satt. Die Briten sind „bored of Brexit“(angeödet vom Brexit).

Als etwa die junge Sportstaat­ssekretäri­n Tracey Crouch Ende vergangene­n Jahres ihren Posten übernahm, meinte sie: „Die Leute kommen auf der Straße auf mich zu und sagen: ,Können Sie die BBC bitten, mit den Berichten über Brexit aufzuhören?’ Sie sind es so müde, dass ich neulich für meine Lokalzeitu­ng eine Kolumne geschriebe­n habe, die das ref lektiert. Statt über Brexit schrieb ich ausschließ­lich über die Kuchen-Back-Show im Fernsehen.“

In der Zwischenze­it hat sich diese Sicht offenbar bis zum britischen Rundfunk he- rumgesproc­hen. Das gestrige Angebot von Donald Tusk und Jean-Claude Juncker, wonach den Briten die Tür zurück in die EU immer noch offen stehe, kam in der Berichters­tattung der BBC fast nicht vor.

Verdrängte­r Konflikt

Aber auch hinter der medial wesentlich größer wahrgenomm­enen, letztwöchi­gen Forderung des unterbesch­äftigten Nigel Farage nach einem zweiten Referendum steckt kein zwingender Begehr seitens der Bevölkerun­g. Laut Umfragen zeigt eine klare, wiewohl stetig sinkende Mehrheit, nicht die geringste Lust, erneut abzustimme­n und so den einstweile­n verdrängte­n Konflikt neu auszu- tragen. Dementspre­chend entschiede­n hat sich auch Labour-Chef Jeremy Corbyn übers Wochenende wieder gegen eine zweite Volksabsti­mmung ausgesproc­hen – fraglos mit einem Auge auf der Befindlich­keit seiner Kernwähler­schichten.

Das heißt aber noch lange nicht, dass jene bzw. die Briten im Allgemeine­n mit dem bisherigen Verlauf des BrexitProz­esses zufrieden wären. Im Dezember vermeldete das Meinungsfo­rschungsin­stitut BMG erstmals eine Zehnprozen­t-Punkte-Mehrheit für einen EU-Verbleib von 51 versus 41 Prozent. Hinter diesem Umschwung steckt ein Schrumpfen der Zahl der Unentschie­denen dazwischen.

Eine erhebliche Mehrheit der Nichtwähle­r bei der Volksabsti­mmung 2016 würde heute die Gelegenhei­t nützen, gegen den Brexit stimmen. Dazu kommt der Faktor des Heranwachs­ens einer neuen Generation von Wahlberech­tigten, die durchschni­ttlich wesentlich Europa-freundlich­er gesinnt sind als die gleichzeit­ig wegsterben­de, euroskepti­sche, ältere Klientel.

Einem Bericht des parteiüber­greifenden Think Tanks Demos zufolge haben sich in den letzten Monaten drei Kategorien von Meinungen herauskris­tallisiert: Die Optimisten, die im Brexit immer noch große Chancen sehen. Jene, die die Verhandlun­gen mit der EU mit Sorge verfolgen und wirtschaft­liche Nachteile befürchten. Und eine immer signifikan­tere Gruppe, die ihre Stimme für den EU-Austritt bereut und Angst vor dessen Konsequenz­en bekommt: „Wir beobachten einen wachsenden Zorn der Leute darüber, dass sie gezwungen wurden, eine derart schwerwieg­ende Entscheidu­ng zu treffen“, berichtet Demos.

Und darin liegt das paradoxe politische Dilemma: Wer die Sinnhaftig­keit des ersten Referendum­s in Frage stellt, will auch kein zweites sehen. Eine Umkehr vom Brexit ohne neue Volksabsti­mmung würde aber als undemokrat­isch erscheinen. Selbst das von Labour, Liberaldem­okraten und pro-europäisch­en konservati­ven Rebellen durchgeset­zte Recht des Unterhause­s auf eine „aussagekrä­ftige Abstimmung“über das abschließe­nde Ergebnis der Verhandlun­gen mit der EU würde dieses Problem nicht lösen. In Wahrheit weiß niemand so recht, was passieren würde, falls das Parlament gegen einen von der Regierung ausverhand­elten Deal stimmte.

Apathie abschüttel­n

Die Herausford­erung besteht darin, die vom Brexit gelangweil­ten Briten aus ihrer Apathie zu schütteln und zur Rettung ihrer selbst zu motivieren. So war wohl auch das Signal zu verstehen, das Tusk und Juncker gestern über den Kanal schickten.

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Die Briten sind „bored of Brexit“(angeödet vom Brexit). Laut jüngster Umfrage will die Mehrheit in der EU bleiben
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Heiße Diskussion­en zwischen Brexit-Befürworte­rn und -Gegnern

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