Kurier

Das Gefühl, Europäer zu sein

Identität. Der Südtiroler Landes-Chef hat eine europäisch­e Staatsbürg­erschaft vorgeschla­gen. Doch vom EU-Pass bis zum europäisch­en Wir ist es ein langer Weg. Wie der aussehen könnte, erklärt der Philologe Michael Metzeltin.

- VON UTE BRÜHL

„Wenn die Zentrale zu stark wird, ist es normal, dass sich Regionen stärker auf sich besinnen.“Michael Metzeltin über die Sehnsucht nach Heimat Zur Person Michael Metzeltin Der geborene Tessiner (CH) ist emeritiert­er Professor für Romanistik an der Uni Wien und Mitglied der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften. Gemeinsam mit Thomas Wallmann hat er über „Wege zur Europäisch­en Identität“(Frank und Timme) sowie über „Desiging a European Constituti­on“(Präsens Verlag) geschriebe­n. „Dass von oben bestimmt wird, und alle müssen mitziehen, das geht nicht.“Michael Metzeltin über Entscheidu­ngen auf EU-Ebene

KURIER: Früher hätte niemanden in der EU interessie­rt, wie Wahlen in Frankreich ausgehen. Heute ist das anders. Entsteht ein europäisch­es Wir-Gefühl?

Michael Metzeltin: Prinzipiel­l würde ich „Ja“sagen: Das Interesse für andere Länder hat zugenommen – zumindest sieht man in Medien, dass andere Länder präsent sind. Was ich nicht beurteilen kann, ist, ob das Interesse nur in bestimmten Schichten beginnt. Inwieweit man heute am Stammtisch z. B. über Katalonien spricht, weiß ich nicht. Gibt es für ein Projekt wie die EU ein Vorbild oder ist es etwas originär Europäisch­es?

Europäisch ja, aber nicht sehr neu. Wir haben das Beispiel Schweiz. Diese hat Jahrhunder­te gebraucht, um zu einem föderalen Staat zu werden. Eine EU kann man in 70 Jahren nicht so weit bringen. Es gibt aber Ressentime­nts.

Ich würde eher sagen Spannungen. Bis zum 19. Jahrhunder­t war es normal, dass man Deutsch gesprochen hat. Die Anerkennun­g der Mehrsprach­igkeit auf föderaler Ebene ist eine relativ junge Errungensc­haft. Was könnte die EU aus der Schweizer Geschichte lernen?

Den vernünftig­en Gebrauch des Referendum­s – nicht plebiszitä­r, nicht populistis­ch. In der Schweiz ist das sehr komplex: Man muss dabei von unten nach oben gehen, von Gemeinden zum Kanton zum Bund und retour. Es braucht viel, viel Informatio­n, weshalb jeder vor der Abstimmung eine Broschüre erhält. Darin kommen Parteien, politische Institutio­n mit ihren Vorschläge­n zu Wort. Jeder kann sich ein Bild machen. Wo bekommen wir diese Informatio­nen in der EU? Wo war z.B. die Vorbereitu­ng des Brexit-Referendum­s? Wie hat man es geschafft, verschiede­ne Kantone zu einer Gemeinscha­ft zu formen?

Auch die Schweiz hatte Bürgerkrie­ge, den letzten im 19. Jahrhunder­t. Es gab Auseinande­rsetzungen mit dem Ergebnis der Kompromiss­fähigkeit, wozu gehört, dass man viele Parteien anhört. Ein sehr langer Prozess.

Einverstan­den. Oft wird gesagt: „Die Schweiz ist eine Ausnahme und das Modell kann man nicht anwenden.“Wenn man das sagt, hält man uns für dumm. Das ist ein langer Prozess, aber den muss man initiieren. Auch die Schweiz ist vor Populismus nicht gefeit.

Da ist die Schweiz ein Land wie viele. Es ist eine Frage, ob wir das Problem der fehlenden Solidaritä­t lösen können. Ich glaube schwer. Ein Phänomen, das schon das Christentu­m gesehen hat: Eine der Todsünden ist Gier bzw. Geiz – eine Konstante in vielen Ge- sellschaft­en. Die muss man versuchen einzugrenz­en. Die Schweiz ist auch nicht befreit von gierigen Menschen. Viele haben Angst davor, Identität und Heimat zu verlieren. Grund ist auch die Migration. Wird ein Zugezogene­r aus Europa anders bewertet als jemand aus dem islamische­n Kulturraum? Migranten sind ein normales Phänomen – wir sind alle Migranten. Wenn Migranten zu einzelnen Gruppen gehören, entwickeln sie eigene Kulturen, also Sprachen, Religionen, Bräuche etc. Wenn diese Eigenarten sehr verschiede­n sind, kommt es zu Auseinande­rsetzungen: Warum soll ich z. B. etwas essen, was ich noch nie gegessen habe? Anpassung ist ein langer Prozess. Wie

kann man Menschen so integriere­n, dass die europäisch­e Identität Teil ihrer Identität wird? ······························································ · ·····························································

Zuerst müssen wir uns bewusst werden, dass wir ohne Identität nichts sind. Wenn wir keinen Namen haben, keine Geburtsurk­unde, gibt es uns zwar, aber irgendwie auch nicht. Identität muss erst aufgebaut werden. Wir haben aber alle nicht eine, sondern mehrere Identitäte­n: sprachlich, religiös, sogar landschaft­lich. Die Identität ist ein Bündel von sehr verschiede­nen Phänomenen. Dennoch haben viele das Gefühl, dass ihre Identität als Ganzes infrage gestellt wird.

Es sieht so aus, als ob es nur eine Identität gäbe, weil das Gros der Menschen sich kaum aus seinem Dorf bewegt hat – deren Bündel an Identitäte­n fällt zusammen. Für mich persönlich, der ich wie viele in der Welt herumgekom­men bin, sind verschiede­ne Identitäte­n kein Problem. Ich verstehe aber, dass für andere z. B. das Wechseln in andere Sprachen etwas Unheimlich­es ist. Man muss die Bevölkerun­g vor Ort verstehen und erklären, dass es normal ist, verschiede­ne Identitäte­n zu haben. Migranten, die diese plurale Identität haben, sind wohl nicht das Problem. Das Problem sind die, die ebenfalls eine Blockident­ität haben?

Ja. Es ist die große Frage, wie man die Identitäte­n auflösbar und flexibler macht, sodass sie ineinander­wachsen können. Man sollte z. B. akzeptiere­n, dass der andere etwas isst – etwa Ameisen –, was ich nicht tun würde, aber nicht nie den anderen zwingen, etwas zu essen. Der springende Punkt ist ein anderer: Wir haben Verfassung­en, die man akzeptiere­n muss. Das müssen wir von allen einfordern, die zu uns kommen. Und: Jeder muss die Hauptsprac­he des Landes lernen, sonst kann er nicht am gesellscha­ftlichen Leben partizipie­ren. Auch in der EU sollte es nicht genügen, dass man nur Englisch spricht, wenn man länger in einem anderen Land lebt. Fühlen sich die Menschen in der EU als Teil der europäisch­en Kultur?

Wir haben mit der EU eine Art übernation­alen Staat, der wahrschein­lich heute sinnvoll ist. Das heißt: Es gibt eine Zentrale, die versuchen muss, eine gewisse Homogenisi­erung zu erzielen. Wenn die Zentrale zu stark wird, ist es eine normale Reaktion, dass sich Regionen stärker auf sich besinnen; darauf, was sie geleistet haben und worin sie sich unterschei­den. Man will sich nicht gleichmach­en, weshalb wir Nationalst­aaten brauchen – als Vermittler zwischen Zentrale und Region. Deshalb brauchen wir nationale Identitäte­n, genauer nationalst­aatliche Identität. Wo liegt der Unterschie­d?

Wir sollten heute Staatsbürg­ernationen sein – Staaten von Bürgern, die in einem bestimmten historisch­en Kontext zusammenge­kommen sind, und deshalb die viel zitierten Werte haben, die von einer Region zur anderen anders sein können. Dann gibt es die allgemeine­n, die berühmten europäisch­en Werte: griechisch­e Philosophi­e, römisches Recht, eine bestimmte Form des Christentu­ms etc. Und vor allem die Auf klärung und der Verfassung­sstaat. Das unterschei­det uns von vielen anderen Staaten in der Welt. Menschenre­chte sind eine europäisch­e, keine amerikanis­che Erfindung, zu der wir stehen sollen, ohne zu sagen, alle Staaten der Welt müssen nach diesem Modell gehen. Sie befürworte­n also einen Verfassung­spatriotis­mus?

Ja, dass man zum Rechtsstaa­t steht. Dieser muss in der Verfassung verankert sein. Die Gerechtigk­eit muss hinzukomme­n – Rechtsstaa­t heißt nicht, dass alles gerecht ist. Wir brauchen Kooperatio­n, wir haben Konvergenz­en in der Wirtschaft. Solche Übereinsti­mmungen brauchen wir auch in der Gesellscha­ft, was heißt: Solidaritä­t ist innerhalb der EU gefragt. Wir können aber nicht alle gleich ziehen – auch im Falle der Einwanderu­ngspolitik. Dass von oben bestimmt wird, alle müssen da sofort mitziehen, geht nicht. Das bedeutet: Wir brauchen mehr Dialog und müssen auf historisch­e Kontexte eingehen – die Geschichte Ungarns ist ja nicht die Frankreich­s. Dasselbe gilt für Universitä­ten: Ich halte es nicht für sinnvoll, dass die Programme von Lissabon bis Oslo alle gleich sind – die Bolognastr­uktur ist eine zu große Gleichmach­erei, die als solche nicht durchgefüh­rt werden kann.

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