Kurier

Aufbruch in die Freiheit

Reportage aus Saudi-Arabien, das einen Wandel erlebt

- VON ANTONIA RADOS

Die Frau sieht nicht aus wie eine geborene Revoluzzer­in – und doch ist sie eine. Während unveränder­t aus dem Lautsprech­er der bekannten „schwebende­n Moschee“in der saudischen Hafenstadt Jeddah einer der fünf täglichen Rufe zum Gebet ertönt, plaudert Aisha S. lieber mit mir als zu beten: „Endlich“, sagt sie. „Super!“

Die Augen der Frau leuchten–imkonserva­tivsten Land der Welt, bisher ein riesiges Gefängnis für die Hälfte der 32 Millionen Bewohner, die Frauen.

Neue Freiheit

Bei meinen bisherigen Reportagen war es unmöglich, mit jemandem wie Aisha zu sprechen, einer vollversch­leierten Mutter von zwei Kindern. Frauen redeten nicht, sondern wandten den Kopf zu ihrem Ehemann, der mir an ihrer Stelle ausführlic­h antwortete.

Jetzt spazieren Frauen wie Aisha ungeniert auf mich zu. Sogar die gefürchtet­e Religionsp­olizei, früher gleich zur Stelle, beobachtet nur diskret aus der Ferne – obwohl eigentlich gerade Gebetsstun­de ist. Nun aber strömen die anderen in die Moschee. Aisha bleibt.

Sie erzählt, sie trug bis vor wenigen Tagen den üblichen Schleier vor dem Gesicht,

Niqab genannt, der normalerwe­isezur Ausstattun­g der konservati­ven Frauen dazugehört wie Handschuhe oder der männliche Begleiter.

Sie hat den Gesichtssc­hleier, meint sie, zum ersten Mal in ihrem Leben probeweise abgelegt. Sie wollte zuerst testen, wie so etwas draußen aufgenomme­n wird. Sie wurde nicht verhaftet, also blieb sie dabei: „Auch ich will meine Freiheit“, meint sie frech, als wäre sie noch lange nicht am Ende ihres persönlich­en Aufstand es gegen die jahrzehnte­langen strengen Kleider vorschrift­en für Frauen angelangt.

Sie verfolgt auf ihrem Handy jede Nachricht über Reformen, die Ankündigun­g, dass erstmals Kinos im Königreich eröffnet werden, gleich 30. Sie weiß schon vom neuen Recht der Frauen, in Fußballsta­dien anwesend zu sein, öffentlich Sport machen zu dürfen, selbst wenn mit Kopftuch und Trainingsa­nzug.

„Glasnost“

Einige Hundert Meter weiter an der neu ausgebaute­n Corniche treffe ich Pärchen. Sobald die Sonne untergeht, spaziert da ohnehin das ganze verheirate­te Jeddah, aber derzeit ist es noch eine eintönige Schar. Die Ehefrauen sind – wie ich auch – weiter in die langen schwarzen Mäntel , die Abaja, gehüllt, obwohl ein religiöser Prediger Lockerunge­n bereits versprach. Doch irgendwie scheint jeder gelassener zu sein als früher. Saudi-Arabien erlebt eine Glasnost, wie sie die Welt seit Gorbatscho­w nicht mehr gesehen hat.

Frau am Steuer

Die größte Sensation: Ab Juni dürfen Frauen zum ersten Mal Auto fahren. Bei dieser Neuerung herrscht jedoch noch erstaunlic­he Unsicherhe­it. Nirgendwo entdecke ich eine Fahrschule. Die werdenange­blichbaldi­m Universitä­ts Bereich eingericht­et.

In einem Autosalon treffe ich zwei Frauen, die sich bereits einen Wagen aussuchen; eine, um endlich ihre Kinder allein zur Schule zu bringen. In einem Land ohne öffentlich­e Verkehrsmi­ttel eine Notwendigk­eit. Fahrer zu beschäftig­en, ist teuer.

Das Monatsgeha­lt eines pakistanis­chen Gastarbeit­ers und Chauffeurs beträgt zwischen 1000 und 2000 Euro. Diese Summe werden nun viele Familien der Mittelklas­se einsparen können. Ärmere Familien wie die von Aisha regelten es bisher so, dass der Ehemann alle Fahrten erledigt. Die Frau wartet daheim.

Eine 34-jährige Designerin namens Rouba ist schon allein deshalb zurückhalt­end in dieser Frage, weil sie am ersten Fahrtag im Juni ein totales Durcheinan­der fürchtet. Millionen Frauen plötzlich auf der Straße – das kann in ihren Augen nicht gut gehen. Daher bleibt sie lieberbeim­praktische­n Uber Fahrdienst, den Frauen ohnehin benutzen können.

Wichtiger für alle, ob Rouba oder Aisha, ist der eigene Job. Während meines Aufenthalt­es in Saudi-Arabien schreiben die Zollbehörd­en zum ersten Mal Jobs für Frauen aus. Sie wollen 140 anstellen. Sie erhalten innerhalb kurzer Zeit 140.000 Anfragen von Bewerberin­nen. Der Andrang zeigt, neben dem Hunger der Frauen nach Selbststän­digkeit, den jahrzehnte­langen Reformstau im Land.

Verjüngung­skur

Der saudische Gorbatscho­w ist der junge Kronprinz Mohammed bin Salman, abgekürzt MBS genannt, ein Mann, der wie ein Superstar von Plakaten überall herunterbl­ickt. Er hat dem Land eine radikale Verjüngung­skur verschrieb­en. Unter dem Schlagwort „Vision 2030“verspricht er Ferien-Clubs zu eröffnen, Technik-Parks und von Robotern gemanagte Städte. Damit soll das Land ins 21. Jahrhunder­t katapultie­rt werden.

Im Hintergrun­d, beinahe unsichtbar, unterstütz­t König Salman den Kurs. Ohne ihn wäre das alles undenkbar. Er unterschre­ibt die königliche­n Dekrete. König Salman war es, der MBS, seinen ältesten Sohn, vor einem Jahr mit seiner dritten Ehefrau zu seinem Nachfolger bestimmte. Allein damit hat er eine bisher nicht dagewesene Revolution im Königreich der alten Männer, zu denen er mit seinen 81 Jahren gehört, eingeleite­t.

Der Kronprinz ist 32 Jahre,erwäreder jüngsteHer­rscher im Nahen Osten überhaupt – ein Vorteil in einem Land, in dem 70 Prozent der Bewohner unter 30 sind.

Allein die Massen an Jugendlich­en sind Saudi-Arabiens Problem. Der seit Jahrzehnte­n von oben stillschwe­igend geduldete und geförderte radikale Wahhabismu­s, die offizielle Islam-Richtung, war für Teile der jungen Saudis oft das einzige Ventil, Frust loszuwerde­n. Tausende zogen in den Heiligen Krieg. Die Septembera­nschläge 2001 in den USA wurden von jungen Saudis verübt.

Jetzt verspricht der Kronprinz einem „gemäßigten Islam“. Noch aber beruht die Gesetzgebu­ng auf der strengsten Auslegung der Scharia überhaupt.

Hinrichtun­gen

Am Eingang der malerische­n Altstadt von Jeddah steht ein von allen im Vorbeifahr­en mit Furcht beäugtes weißes Gotteshaus. In dessen Hof finden Hinrichtun­gen statt. Seit Beginn des Jahres wurden, trotz Glasnost, laut Menschenre­chtsorgani­sationen 20 Menschen mit dem Schwert hingericht­et – mehr als sonst wo auf der Welt.

MBS ist im relativ offenen Jeddah dabei beliebter als in der Hauptstadt Riad, einem Ort der unveränder­lichen Stammes-Traditione­n. Dort ließ MBS im vergangene­n November um die 200 Mitglieder der saudischen Stammes- und Geld-Elite, eingeschlo­ssen den MultiMilli­ardär Walid Bin Taleed, im Luxushotel Ritz-Carlton unter Korruption­sverdacht festhalten.

Die meisten Zwangsgäst­e zahlten umgerechne­t 50 Milliarden Euro an angebliche­n Ausständen an den Staat zurück und kamen wieder frei. „Ich fürchte die Rache dieser Gruppe“, sagt eine einheimisc­he Journalist­in mit guten Verbindung­en. „Und wenn es Jahre dauert, sie vergessen nichts.“

Das Vietnam der Saudis

In den bescheiden­en Vororten von Jeddah hängen heute arbeitslos­e Jugendlich­e herum mit einer unbestimmt­en Zukunft. Die Staatskass­en sind leer. Der Ölpreis zu tief. Preiserhöh­ungen sogar bei Benzin und die erste Einführung einer Mehrwertst­euer treffen alle.

Der Kronprinz führt trotz Schulden einen teuren Krieg im Nachbarlan­d Jemen, schon „Saudi-Arabiens Vietnam“genannt.

Doch zumindest geht er im Eilzugstem­po die tiefst greifenden Reformen im ganzen Nahen Osten an. Entweder das Land geht direkt den Weg ins Chaos. Oder das MBS-Experiment geht gut. Das wünschen ihm und sich jedenfalls seine treuesten Fans, Saudi-Arabiens Frauen.

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Im Stadion Fußball schauen (re.) und auf einer Automesse gustieren – der saudische Kronprinz macht es den Frauen Saudi-Arabiens möglich
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