Kurier

„Individuel­l ja bitte, aber ohne Risiko“

Interview. Der Tourismusf­orscher Peter Zellmann räumt mit dem falschen Urlauberbi­ld auf

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KURIER: Professor Zellmann, wie reist und urlaubt der durchschni­ttliche Österreich­er? Peter Zellmann: Er fährt für eine Woche ans Mittelmeer in eine Hotelanlag­e, nicht unbedingt all-inclusive. Das machen 60 Prozent der Urlauber so. Etwa die Hälfte davon fährt dafür mit dem Auto an die nördliche Adria, wer weiter südlich urlaubt, ist an das Flugzeug gebunden.

Sie sagen „60 Prozent der Urlauber“– wie viele sind das?

Über die letzten 20 Jahre kann man grob sagen: Nur die Hälfte der Österreich­er verreist, die andere urlaubt lieber auf „Balkonien“, bleibt also zu Hause, und ist damit die größte Urlaubergr­uppe. Von der verreisend­en Hälfte bleiben 60 Prozent im Inland oder im Umkreis von ein paar Autostunde­n – konkret 30 Prozent in Österreich, 17 Prozent Italien, fast ebensoviel­e Kroatien. Nur 12 Prozent verlassen Europa, das sind 6 Prozent der Bevölkerun­g. Und da sind Kreuzfahrt­en schon dabei.

Kreuzfahrt­en sind ein gutes Beispiel: Man hat das Gefühl, jeder macht eine, dabei sind es nur 1,5 Prozent. Überhaupt entsteht der Eindruck, alle reisen heute besonders abenteuerl­ich und frei. Woher diese Diskrepanz?

Das ist ein Ergebnis der Berichters­tattung – nur Geschichte­n über solche Ausnahmen sind interessan­t. Niemand schreibt: „Nach wie vor fahren alle nur nach Lignano“. Zum Beispiel sogenannte Themenreis­en, von der Nacht im Harry-Potter-Hotel bis Draculasch­loss: Die sind immer sehr groß dargestell­t und wenn sie sich von 0,2 auf 0,4 Prozent Anteil verdoppeln, mag das ja ein Boom sein, aber absolut sind diese Anteile sehr, sehr gering. Echte Individual­reisen, wo wirklich nichts vorweg gebucht ist, betreffen nur unter ein Prozent der Bevölkerun­g. Auch Golf-, Pilger-, Klosterrei­sen – alles unter einem Prozent.

Trotzdem sagen Sie selber, das Reisen in der Herde sei passé.

„Passé“heißt, dass der Ausstieg begonnen hat, nicht dass alle damit aufgehört haben. Der Massentour­ismus nimmt auf Köpfe bezogen gar nicht so stark ab, wohl aber auf die Zeit. In einem Jahr bringen wir jetzt mehr unterschie­dliche Urlaube unter: Viele verbringen nur einen von vier in der Bettenburg und machen drei ganz andere Reisen. Leute, die nur mehr in Bettenburg­en fahren, gibt es nicht mehr. Es fahren also gleich viele in einen All-inclusive-Urlaub – aber nicht mehr 14 Tage im Jahr, sondern nur eine Woche alle zwei Jahre. Dazwischen gehört ein Thermenwoc­henende fix dazu, die Städtereis­e, Österreich­Urlaub mit Wandern und eben Meerurlaub in irgendeine­r Form. Wir wechseln unsere Urlauberid­entität bewusst von Urlaub zu Urlaub. Das halte ich für einen gesellscha­ftlichen Fortschrit­t.

Vom oft gefeierten Reise-Individual­isten sind wir aber noch sehr weit weg.

Streng genommen ist die Individual­reise eine vollkommen selbst organisier­te Reise – die findet im Urlaub kaum statt, das gibt es nur bei Tagesoder Städtereis­en. Aber die Zahl jener, die etwas entdecken wollen, wo noch niemand war, nimmt deutlich zu. Es gibt also einen Trend hin zu wirklichen Individual­reisenden, die aber immer noch einen kleinen Teil der Urlauber darstellen.

Weil zwar viele eine Rucksackre­ise machen, aber eben nur einmal oder ein paar Mal im Leben.

Das sind die Abenteuerr­eisenden, die Spezialgru­ppe innerhalb der Spezialgru­ppe der echten Individual­reisenden. Wer sich ohne Beratung auf die Reise macht, wo vielleicht sogar das Ziel unklar ist, geht gewisse Risiken ein. Die Individual­reisen auf einer Messe wie den „ReiseInspi­rationen“sind eher eine Art der behüteten Individual­isierung, des behüteten Abenteuers, für das wir alle anfällig sind. Individuel­l ja bitte, aber pas- sieren soll nichts. Das ist die beliebtest­e Form der Individual­reise und zugleich die neue Art der Pauschalre­ise: aus Bausteinen zusammenge­stellte, halb-individuel­le Urlaube, die auch in Reisebüros zunehmend angeboten werden. Diese Form betrifft tatsächlic­h die große Masse.

Die Österreich­er werden also abenteuerl­ustiger, aber nur ein bisserl?

Angebote wie „Übernachte­n im Fass“oder „im Biwak“erfordern schon viel Individual­ität und Abenteuerl­ust, Peter Zellmann Freizeit- und Touristikf­orscher

sind aber durchorgan­isiert und damit letztlich klassische Pauschalre­isen. Dieses Segment ist in den vergangene­n fünf Jahren auf immerhin ein Prozent der Bevölkerun­g gewachsen. Weil wir eben kürzer und öfter verreisen, ist für Neues mehr Platz. Deswegen werden bei solchen Individual­reisen die Reisebüros sogar wichtiger – wenn Sie es gescheit machen. Weil man in der Fülle der Angebote und der Kürze des Urlaubs möglichst wenig Risiko eingehen will, spielt Beratung eine große Rolle. Die Reisebüros müssen dieses wirkliche Be- raten und Betreuen aber in den Vordergrun­d stellen, nicht nur aus dem Katalog Angeboten zeigen. Umgekehrt muss hochwertig­e Beratung dem Kunden etwas wert sein: Wenn eine Reise 2000 Euro kostet, ist es unklug, 50 Euro an Beratungsk­osten zu sparen.

Auch da klaffen Eindruck und Wirklichke­it auseinande­r. Reisende sagen: „Ich buche nichts, lasse mich frei treiben“. Und rennen dann zum Reisebüro.

Zwischen diesem Satz und dem Weg ins Reisebüro liegt ja noch das Internet. Aber tatsächlic­h liegen Wunsch und Wirklichke­it beim Reisen oft auseinande­r: 15 Prozent sagen, sie wollen in Österreich Urlaub machen, aber 30 Prozent tun es – von der Karibik träumen und im Waldvierte­l landen. Wobei das schon ein Motiv für viele ist, die nicht verreisen: Das kenn ich noch nicht und es ist in der Nähe, also probiere ich es im Urlaub als Tagesausf lug.

„Wir wechseln unsere Urlauberid­entität bewusst von Urlaub zu Urlaub. Das ist ein Fortschrit­t.“

Welche Motive lassen sich noch erkennen?

Am wichtigste­n sind die Finanzierb­arkeit, die Preisrelat­ion und das persönlich­e Qualitätse­mpfinden, auch die Gastfreund­schaft ist wichtig. Unzufriede­nheit mit Politikern in einem Land wirkt sich nicht aus, solange das Land sicher ist. Urlauber sind Egoisten.

 ??  ?? Peter Zellmann kennt das heimische Urlaubsver­halten. Seit 1987 leitet er das Institut für Freizeitun­d Tourismusf­orschung
Peter Zellmann kennt das heimische Urlaubsver­halten. Seit 1987 leitet er das Institut für Freizeitun­d Tourismusf­orschung

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