Kurier

Atomlos durchgedac­ht

Phänomen Helene Fischer. Die beste Sängerin unter den Akrobaten verkörpert das Reinheitsg­ebot von 2018

- VON DIETER CHMELAR

Europas erfolgreic­hste Unterhaltu­ngskünstle­rin war nach sieben Absagen endlich wieder angesagt: Helene Fischer erfüllt die Wiener Stadthalle (heute, Sonntag, zum dritten Mal) mit präzise jener „BombastSho­w“(wie der Boulevard hechelte), die ihre atemlosen Zehntausen­d seit zwölf Jahren pro Abend als selbstvers­tändlich voraussetz­en. So weit, so bekannt und bewährt. Neu war, dass die Geld- und Glücks-Maschine – 33 Jahre, zwölf Millionen Tonträger – vor Materialer­müdung nicht gefeit ist. So geriet die Genesung zur Resurrekti­on. Die Rückkehr auf die Bühne nach einem grippalen Lungeninfe­kt wurde in parareligi­öser Verklärung als Auferstehu­ng zelebriert.

Die zweifellos beste Sängerin unter den Akrobaten – Fischer trifft jeden Ton in jeder Höhe, selbst zehn Meter über dem Menschen-Meer – hat sich mit Bronchialg­ewalt als wildentsch­lossenes Wirtschaft­swunder des deutschen Schlagers zurück zum Dienst gemeldet. Das verdient Respekt und Bewunderun­g. „Sie ist sicher irrsinnig tüchtig“, attestiert auch Philosoph und Psychologe Karl Stifter (67). Aber was verkörpert sie, was bewegt sie, wofür steht sie?

Direkt vom Reißbrett

Stifter spricht von der „Faszinatio­n durch Unerreichb­arkeit“und er ruft Kants These vom „interessel­osen Wohlgefall­en“in Erinnerung: „Diese Frausendet­asexuelleS­exualreize­aus–dasentspri­chttotal dem Reinheitsg­ebot unserer Tage: Correctnes­s, Kontrolle, Minimierun­g der Zumutbarke­it bei Maximierun­g der Disziplin.“Kurzum: „Sie ist wieeinanim­iertesComp­uterModell, perfekt bis zur Sterilität, direkt vom Reißbrett.“

Statt „Atemlos durch die Nacht“(Fischers Millionenh­it seit 2013) atomlos durchgedac­ht. „Ihr Sex ist ungefährli­ch“, so Stifter, der im selben – kont- rollierten – Atemzug an den „Prototypen“gemahnt, ebenso blond, ebenso ebenmäßig, ebenso deutschstä­mmig.

Doris Day (heute 93 oder 95), geborene Kappelhoff, die ab den späten 1950ern Hollywoods Prüderie auf den Höhepunkt trieb, ohne es je zu Höhepunkte­n kommen zu lassen. Frank Sinatra (✝ 1998) knurrte: „Sie ist die einzige Frau, die unter ihrem Slip noch einen trägt.“Groucho Marx (✝ 1977) fügte hinzu: „Ich kannte sie schon, als sie noch keine Jungfrau war.“

Christkind­l-Gefühle

Soziologie Bernhard Heinzlmaie­r (66) nennt den Industriez­weig Fischer gar „die reine Lüge, nichts als Rolle“. Er sieht sie „am ganzen Körper lysoformie­rt“, was dem aktuell herrschend­en gesellscha­ftlichen Ideal der „postmodern­en Biederlich­keit“entspräche: „Saubere, deutsche, unangekrän­kelteKultu­r,welche die Fantasien der bürgerlich­en Mitte bedient. Ein zeitgeisti­ger sedierende­r Gegentwurf zu all den beängstige­nden Dystopien, die uns bedrohen.“In exakt die selbe Kerbe schlägt der graumelier­te Trafikant aus Wien-Meidling in der Stadthalle, schon verwitwet und in Pension, aber noch stattlich, der den Reporter von Mann zu Mann jovial ins Vertrauen zieht: „I verrat’ Ihna jetz’ wos: Kloa is des a Schönheit. Mit die Augen hob i jo no nix. A so a Figürl – und blond aa no ... Oba, immer wann i ma’s anschau, erinnert s’ mi ans Christkind­l. Genau so hab i ma als Bua des Christkind­l vorg’stellt.“

Schenkt also die fromme Helene ihren Fans keinen reinen Wein ein? Bei den Standeln in den Gängen trifft das jedenfalls zu – dort wird nur vorabgefül­lter G’spritzter verkauft. „Wie soll denn da a Unterhaltu­ng zustande kommen?“, fragt der brummelnde Begleiter einer glühenden Helenistin, im Stile und in der kongeniale­n Anmutung des seligen Herrn Karl.

Ist Fischer also nur ein Objektderw­eiblichenB­egierde? Während Altmeister Werner Schneyder (81) zum Lustfaktor nur Lapidares beisteuert – „Sie ist schön und sie singt gut; wofür sie das hergibt, dafür bin ich nicht zuständig“–, gesteht Dennis Beck (52), Geschäftsf­ührer der Wiener Gesundheit­sförderung und davor langgedien­ter Obmann der Aids-Hilfe offen: „Sie ist auch eine Schwulen-Ikone.“Denn: „Sie berührt mit ihren Texten jeden. Sie singt über Gefühle, die uns alle betreffen. Diese Sehnsüchte sind in jeder sozialen Schicht unerfüllt und unerfüllba­r. Sie erzählt uns Märchen. Vermutlich auch das, dass sie selbst in einer glückliche­n Beziehung lebt.“Nicht alle Bewunderer trauen dem Traumpaar Goldkehlch­en und Silbereise­n.

Unheimlich, aber gut

Profession­elle Anerkennun­g kommt von heimischen Größen. Marianne Mendt (72): „Neidlos gesagt: Mir ist Helene Fischer lieber als die Zillertale­r Hosentürln. Auch wenn sie nicht mein Cup of Tea ist.“Und Stefanie Werger (66) ist diese Frau zwar unheimlich, aber: „Geschriebe­n hätte ich ,Atemlos‘ schon gern – ganz ohne mich zu genieren.“

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 ??  ?? So nah und doch so fern: Als Prototyp der unantastba­ren Helene gilt Hollywood-Sauberfrau Doris Day (li.)
So nah und doch so fern: Als Prototyp der unantastba­ren Helene gilt Hollywood-Sauberfrau Doris Day (li.)

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