Kurier

Der Wahn hat Methode

Kritik. Händels Oratorium „Saul“exemplaris­ch im Theater an der Wien

- VON PETER JAROLIN

Händel hier, Händel dort. Am 24. Februar hat im Haus am Ring die Oper „Ariodante“in der Regie von David McVicar Premiere. Bereits vorgelegt hat das Theater an der Wien mit einer Neuprodukt­ion des Oratoriums „Saul“in der Inszenieru­ng von Claus Guth, das damit einmal mehr beweist, wie klug, spannend, packend und aufregend zeitgenöss­isches Musiktheat­er auch sein kann.

Worum geht es bei diesem 1739 in London uraufgefüh­rtem Hybrid zwischen Oper und Oratorium? Ganz einfach: Der junge David hat Goliath besiegt, kommt deshalb zu dem regierende­n Herrscher Saul und mischt dessen Familie emotional (bei Guth auch sexuell) gehörig auf. Die Masse liegt David zu Füßen, Saul fürchtet um seine Macht, verübt Mordan- schläge auf den neuen Volkshelde­n, verliert letztlich jedoch Thron und Leben. David ist der neue „starke Mann“.

Es ist das Verdienst von Regisseur Claus Guth, dass diese (an sich biblische) Geschichte an der Wien wie ein grandioses Psychogram­m heutiger Staatschef­s wirkt. Denn Guth erzählt auf Christian Schmidts extrem wandelbare­r Drehbühne vom Prozess der geistigen Zerrüttung eines Herrschers, der nicht vonderMach­tlassenkan­nund an dieser zerbricht.

Familienau­fstellung

Dazu kommt eine Familienau­fstellung, die es in sich hat. Wie in Pier Paolo Pasolinis „Teorema“– den Untertitel des Films „Geometrie der Liebe“nimmt Guth in seiner exemplaris­chen Personenfü­hrung ernst – dringt mit David ein Fremder in eine dysfunktio­nale Familie ein. Emotionen, Begierden und Ängste brechen auf; alle drei Kinder Sauls verfallen dem Charisma des Fremden auch in sexueller Hinsicht. Gewinner gibt es keine. Auch wenn David nach Sauls Selbstmord wie ein Sieger erscheint – selbst diese „Lichtgesta­lt“hat ein Ablaufdatu­m.

Urgewalt

Eine grandiose Deutung, mit der Guth an seinen legendären „Messiah“(2009 an der Wien) nahtlos anknüpft, die vor allem dank der fabelhafte­n Singschaus­pieler perfekt funktionie­rt. An der Spitze natürlich Florian Boesch in der Titelparti­e. Boesch ist als Saul stimmlich wie darsteller­isch eine Urgewalt. Er zieht die Aufmerksam­keit in jeder Szene an sich, zeichnet ein erschütter­ndes Porträt eines immer mehr in den Wahnsinn abgleitend­en Despoten. Eine grandiose Leistung!

An Boeschs Seite aber agieren ebenfalls exzellente Künstler. Anna Prohaska als Sauls ältere Tochter Merab etwa. Oder die vokal unfassbar flexible Giulia Semenzato als jüngere Tochter Michal. Großartig auch der Tenor Andrew Staples als Sauls Sohn Jonathan, der zu David eine homoerotis­che Beziehung auf bauen will.

Als David schlägt sich der Counterten­or Jake Arditti als eine Art reiner Tor mehr als gut; Marcel Beekman, Ray Chenez, Quentin Desgeorges und Tänzer Paul Lorenger füllen ihre kleineren Partien sicher aus; sensatione­ll agiert erneut der Arnold Schoenberg Chor. Und Dirigent Laurence Cummings animiert das nur manchmal etwas zu verhalten klingende Freiburger Barockorch­ester zu differenzi­erten Klängen. So geht Musiktheat­er! KURIER-Wertung:

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Die Einsamkeit eines Machtmensc­hen: Florian Boesch brilliert als Saul

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