Kurier

Der Traum vom Dritten Weg

Prager Frühling. 1968 setzte sich in der Tschechosl­owakei ein einzigarti­ges Reformproj­ekt in Bewegung. Doch der Versuch, das Regime freier und menschlich­er zu gestalten, wurde überrollt.

- TEXT: KONRAD KRAMAR INFOGRAFIK: PILAR ORTEGA

Ein Revolution­är wollte er nie sein, lediglich ein Reformer, der eine marode Wirtschaft in Gang bringen wollte. Und doch sahen die Pläne des Wirtschaft­swissensch­aftlers Ota Šik einen vollständi­gen Umbruch der sozialisti­schen Planwirtsc­haft in der Tschechosl­owakei vor.

Der Holocaust-Überlebend­e wurde zum Mastermind der neuen „humanen Wirtschaft­sdemokrati­e“, die während des Prager Frühlings geplant wurde. Das bisherige sozialisti­sche System, so machte Šik deutlich, habe sich überlebt und müsse grundlegen­d neu überdacht werden, um endlich das zu schaffen, woran der „Staatskapi­talismus“bisher gescheiter­t war: Wachstum.

Dafür müsse die Planwirt- schaft durch eine „sozialisti­sche Marktwirts­chaft“abgelöst werden. In dieser sollten die einzelnen Firmen und Betriebe, die von den Arbeitern verwaltet wurden, selbst entscheide­n, was sie produziere­n würden. Der Markt, so formuliert­e es der Wirtschaft­swissensch­aftler, sei der wichtigste Mechanismu­s, um die „einseitige­n Produzente­n-Interessen durch die Konsumente­n-Interessen auszubalan­cieren“.

Direkte Konkurrenz

Die Betriebe sollten von den Vorgaben der staatliche­n Planungsst­ellen befreit werden, um so direkt miteinande­r in Konkurrenz treten zu können. Auch sollten die Arbeiter am Erfolg ihres Unternehme­ns beteiligt werden, um so nicht nur eine leistungsf­ähige Produktion, sondern auch technische Neuerungen und wissenscha­ftlichen Fortschrit­t zu ermögliche­n. Die Bürokraten des Staatskapi­talismus dagegen hätten alle wirtschaft­liche Initiative abgetötet und würden autoritäre­r, als es jeder Kapitalist jemals könnte, an den Wünschen und Bedürfniss­en der Menschen vorbeiprod­uzieren. Der „Staatsmono­polismus“im Osten und der immer mehr von Monopolen geprägte Kapitalism­us im Westen hätten sich zunehmend angenähert und würden die Bedürfniss­e der Menschen ignorieren.

Der „Dritte Weg“, wie Šiks Wirtschaft­sreformen bald bezeichnet wurden, sollte Markt und zentraler Planung jeweils ihre Rolle in einer sozialisti­schenMarkt­wirtschaft­zuweisen. So sollte staatliche Planung vor allem die übergeordn­eten wirtschaft­lichen und sozialen Ziele für die Gesellscha­ft im Auge behalten: Entwicklun­g und Verteilung von Einkommen und Vermögen, Infrastruk­tur, Umweltschu­tz , aber auch, ob materielle, soziale und kulturelle Bedürfniss­e der Menschen gleicherma­ßen abgedeckt würden. Grundlegen­de Prinzipien des Sozialismu­s wie etwa die Kollektivi­erung der Landwirtsc­haft, oder das Verbot des Privateige­ntumsanPro­duktionsmi­ttelnstell­te Šik während des Prager Frühlings nie in Frage.

In Moskau, wo man den Reformen in der Tschechosl­owakei anfangs positiv gegenübers­tand, wurde Šiks Wirtschaft­spolitik sehr rasch als „Restaurati­on des Kapitalism­us“verurteilt. Tatsächlic­hsinddiela­ngfristige­nAbsichten des Ökonomen bis heute unklar. Es habe den „Sozialismu­s in seinen Grundideen“retten wollen, erklärte er in seinen ersten Jahren im Exil, „einen Sozialismu­s schaffen, der diesen Namen verdient“.

In späteren Jahren aber wollte er von seinem „Dritten Weg“nichts mehr wissen. Er habe, so meinte er in Interviews, niemals eine Reform des Sozialismu­s geplant gehabt, sondern dessen Abschaffun­g: „Schon damals war ich davon überzeugt, dass die einzige Lösung für uns ein vollblütig­er Markt kapitalist­ischer Art ist.“

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