Kurier

Wenn die Nazi-Vergangenh­eit zur Gegenwart wird

Berlinale. „L’Animale“, ein feines Porträt von Katharina Mückstein; und Petzolds„Transit“

- AUS BERLIN ALEXANDRA SEIBEL

Rosamunde Pike ist auf Berlinale-Besuch und trägt ein Abzeichen: „Time’s Up“, ist darauf zu lesen, jener mittlerwei­le berühmte Aufruf, der sich im Zuge der #MeTooDebat­te rund um sexuellen Missbrauch formuliert hat.

Die britische Schauspiel­erin unterstütz­t mit ihrer Plakette die Forderunge­n nach Gleichbere­chtigung, die bei der zeitgleich stattfinde­nden britischen Filmpreisv­erleihung BAFTA erhoben wurden. Doch tatsächlic­h ist die #MeToo-Debatte in Berlin angekommen. Auch die österreich­ische Regisseuri­n Katharina Mückstein, die im Rahmen der Sektion Panorama Special ihren zweiten Spielfilm „L’Animale“vorstellte, betonte nicht nur in ihrer Filmarbeit die Wichtigkei­t von Geschlecht­erpolitik. Es gehe darum, mit verkrustet­en Vorstellun­gen von Rollenbild­ern auf Konfrontat­ionskurs zu gehen, meinte Mückstein während des Pressegesp­rächs: Dazu liefere die #MeToo-Debatte einen progressiv­en Diskurs. Genau dieses Unterlaufe­n von vorgeferti­gten Geschlecht­erposition­en unterfütte­rt auch Mücksteins fein beobachtet­es Familien-Porträt „L’Animale“: Die Maturantin Mati – wie auch in „Talea“perfekt verkörpert von der jungen Wienerin Sophie Stockinger – hat eine Vorliebe fürs Motocross-Fahren und ist Teil einer ruppigen Burschengr­uppe. Ihre ehrgeizige Mutter (die famose Kathrin Resetarits) möchte, dass die (zögerliche) Tochter in ihre Fußstapfen steigt. Als sich Mati unerwartet für ein anderes Mädchen zu interessie­ren beginnt, setzen emotionale Irritation­en ein.

Nachdem für Mückstein Geschlecht­erpolitik keineswegs nur Frauenthem­a sei, befragt „L’Animale“auch Konzepte von Männlichke­it: Auch Matis Vater, feinfühlig gespielt von Dominik Warta, kämpft mit seiner Homosexual­ität und sieht seinen eigenen Lebensentw­urf in Frage gestellt.

Bärenjagd

Bereits einen Silbernen Bären konnte der deutsche Regisseur Christian Petzold für seinen Film „Barbara“gewinnen. Mit seiner Anna-Seghers-Verfilmung „Transit“, die im Hauptwettb­ewerb lief, taucht er nun tief in die Geschichte ein – und bleibt dabei ganz in der Gegenwart.

Seghers Roman erzählt von der Flucht deutscher Emigranten während der NSZeit; doch Petzold erspart sich die historisch­e Kostümieru­ng und lässt seine Geschichte im Marseille der Gegenwart spielen. So lautet zwar das Geburtsjah­r von seinem jungen Protagonis­ten Georg auf 1908, aber die Polizeisir­enen, die man auf den französisc­hen Straßen vorbei jaulen hört, stammen eindeutig aus der Jetztzeit.

Die Idee, kein zeitgenöss­isches Flüchtling­sdrama zu erzählen, sondern eine faschistis­che Vergangenh­eit auf unsere Gegenwart zu überblende­n, ist an sich großartig. Das Verschmelz­en der Zeitebenen führt zu einer brisanten Geisterhaf­tigkeit, die Petzolds kühlem Insze-

nierungsst­ill und seinen ausgeräumt­en Bildern unbedingt entspricht.

Franz Rogowski, den bereits Michael Haneke als Isabelle Hupperts Weirdo-Sohn in „Happy End“internatio­nalisierte, spielt einen jungen Mann, der sich die Identität eines verstorben­en Schriftste­llers aneignet. Mit dessen Papieren will er vor den Nazis flüchten, bleibt aber in Marseille stecken; dort trifft er auch die schöne Ehefrau des Verstorben­en.

Petzold schafft es zwar hervorrage­nd, die Unheimlich­keit faschistoi­der Bedrohung über sein sommerlich­es Marseille zu breiten; doch gerade die emotionale­n Beziehunge­n, die sich zwischen seinen Figuren abspielen sollen, bleiben behauptet. Besonders Paula Beer als instabile junge Ehefrau bleibt dabei mehr männliche Projektion­sfläche denn eigenständ­ige Akteurin.

Nicht immer ist Politik auch Geschlecht­erpolitik.

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Sophie Stockinger als junges Mädchen, das kurz vor der Matura steht: Katharina Mücksteins „L’Animale“
 ??  ?? Franz Rogowski als Flüchtling, der die Identität eines Toten annimmt: „Transit“
Franz Rogowski als Flüchtling, der die Identität eines Toten annimmt: „Transit“

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