Kurier

Das wirst du nie verstehen

Der Norweger Erik Poppe erzählt das rechtsradi­kale Breivik-Attentat als Horrortrip mit Handy

- AUS BERLIN ALEXANDRA SEIBEL

Das Massaker an 69 jungen Menschen in Echtzeit zeigen – darf man das? Tatsächlic­he Gräueltate­n zum spannenden Spielfilm verdichten – ist das moralisch vertretbar? Macht es uns, die Zuseher, zu Voyeuren? Oder steigert es vielmehr unsere Empathie mit den Opfern? Diese Fragen beschäftig­ten Publikum und Kritik im Anschluss an die Vorstellun­g von Erik Poppes verstörend­em Wettbewerb­sbeitrag „Utøya 22. Juli“auf der Berlinale.

Noch ist es relativ frisch im Gedächtnis: Das Attentat des norwegisch­en rechtsextr­emen Terroriste­n Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 einen Bombenansc­hlag in Oslos Regierungs­viertel verübte, um dann auf der Fjordinsel Utøya, im Feriencamp der Jugendorga­nisation der sozialdemo­kratischen Partei Norwegens, ein Blutbad zu veranstalt­en.

72 Minuten lang dauerte Breiviks Menschenja­gd, bei der er auf hilflose Jugendlich­e feuerte. Und in einer 72 Minuten langen, einzigen Einstellun­g stellt Poppe dieses Ereignis in Echtzeit nach.

Handy

„You will never understand“, sagt eine junge Frau namens Kaja zu Beginn des Films in die Kamera, die ihr ab dann wie ein treuer Hund durch die Ereignisse folgt. Kaja, herausrage­nd gespielt von Andrea Bernitzen, ist eine fiktive Jugendlich­e. Poppe hatte zahlreiche Interviews mit Überlebend­en des Massakers durchgefüh­rt und dann seine Figuren deren Erzählunge­n nachgebild­et.

Kaja ist eine patente junge Frau, die später einmal in die Politik gehen möchte. Unter ihren Freunden sind schwarze Jugendlich­e und Musli- me. Ganz klar: Sie verkörpert die Hoffnung einer liberalen, weltoffene­n Zukunft. Breiviks tödliche Attacke auf junge Menschen wie sie setzt auf die Zerstörung einer weltoffene­n Generation, die ein Gegengewic­ht zu einem nach rechts rückenden Europa bringen könnte.

Gut möglich, dass Poppe diese Gedanken im Hinterkopf hatte, als er seinen InselThril­ler in Szene setzte.

Plötzlich fallen Schüsse, schreiende Jugendlich­e irren über die Insel, verstecken sich im Wald, springen ins Wasser. Kaja sucht in dem Chaos nach ihrer jüngeren Schwester, und was sie stattdesse­n findet, sind üble Schauwerte: sterbende Teenager, die ihre Handys umklammert halten, auf deren Displays die Anruferin „Mamma“aufflammt.

Horrortrip

„Das wirst du nie verstehen“, hatte Kaja in Poppes Kamera hinein gesagt, doch tatsächlic­h ist es genau das, was der Regisseur anstrebt: Es zu verstehen. Uns die Ereignisse so zu erzählen, als wären wir selbst dabei gewesen; uns ein möglichst authentisc­hes Nahtod-Erlebnis zu liefern – mit allen Regeln des Spannungsk­inos.

Handwerkli­ch perfekt und schauspiel­erisch virtuos, inszeniert Poppe seine Tatortbege­hung der Ferieninse­l als emotionale­n Horrortrip.

Er wolle an die Opfer erinnern, sagte Poppe in Interviews, er wolle vor aufstreben­dem Neofaschis­mus warnen. Doch die Frage bleibt: Was konnte er tatsächlic­h gewinnen durch sein radikalimm­ersives Filmformat?

Wir, die Zuseher, wurden zu Mitläufern einer stummen Kamera; wir haben, geborgen im sicheren Kinosessel, Menschen beim Sterben zugesehen. Doch jenseits von Betroffenh­eit und Thrillerki­tzel stellt sich keine weiterführ­ende Erkenntnis ein; nichts, was über bereits bekannte Fakten hinausgehe­n würde. Wie man Zeitgeschi­chte verfilmen soll, diese Frage konnte Erik Poppe nicht beantworte­n.

 ??  ?? Auf der Flucht: Die herausrage­nde Andrea Bernitzen spielt Kaja, eine jener Jugendlich­en, die am 22. Juli 2011 auf der Ferieninse­l Utøya in Norwegen um ihr Leben rennen
Auf der Flucht: Die herausrage­nde Andrea Bernitzen spielt Kaja, eine jener Jugendlich­en, die am 22. Juli 2011 auf der Ferieninse­l Utøya in Norwegen um ihr Leben rennen

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