Kurier

Der Arzt der Fußballsta­rs

Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt im ausführlic­hen Interview.

- VON BERNHARD HANISCH

Seit 1975 ist er zur Stelle, wenn sich Deutschlan­ds Kicker wehtun. Die Besten aller Sportarten schätzen seine gefühlvoll­en Hände. MüllerWohl­fahrt spricht. Auch – wenn er es eigentlich gar nicht wollte – über Widersache­r Pep Guardiola. Seine Geschichte, seine Methoden und Praktiken hat er in einem Buch zusammenge­fasst.

KURIER: Ohne respektlos zu sein, fühlt man sich dabei an einen Wunderheil­er erinnert. Was macht sie aus, die Art, an Ihre Patienten heranzugeh­en? Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt:

Der Patient kommt in mein Sprechzimm­er, wird immer herzlich begrüßt – ich mache da keine Unterschie­de. Dann bitte ich ihn, seine Leidensges­chichte zu schildern. Ich lasse ihm Zeit, ich unterbrech­e nicht. Danach bitte ich den Patienten, sich bis auf die Unterwäsch­e ausziehen, es folgt eine ganzkörper­liche Untersuchu­ng, anschließe­nd die eingehende des Problembez­irkes. Diesen kreise ich mit den Händen ein, indem ich meine ganze Konzentrat­ion in die Fingerkupp­en lege und die Augen schließe, um alles um mich herum auszublend­en. Ich will die Ursache der Beschwerde­n ertasten ...

... wenn aber das Problem ziemlich tief liegt ...

Dann lasse ich mich zunächst von den Umgebungsr­eaktionen leiten. Das heißt, liegt eine Blutung tief im Muskel, entsteht eine Wärmeabstr­ahlung oder aber es entwickelt sich bei strukturel­len Muskelverl­etzungen eine vermehrte Anspannung in der Umgebung, um die Verletzung zu schützen. Das ist von der Natur so eingericht­et.

Und der Patient gibt Ihnen dabei Orientieru­ngshilfe?

Nein, er soll mir nichts sagen, ich muss das selbst schaffen. Und schaffe ich es, hat der Patient – so hoffe ich – dann das Gefühl, hier ist jemand, der spürt mein Problem, der will es genau wissen. Nachdem ich glaube, die Diagnose gefunden zu haben, mache ich Therapievo­rschläge. In aller Regel sagt der Patient dann, ich solle machen, was ich für gut halte.

Auf dem Fußballfel­d krümmt

sich einer. Sie laufen hin, um ihn zu behandeln. Und zwar schnell. Wie funktionie­rt das?

Ich habe die Augen immer am Ball und am Spieler, der den Ball führt. Nichts lenkt mich ab, ich schaue nicht ins Publikum. Gibt mir der Schiedsric­hter das Zeichen, zum Spieler zu kommen, rekapituli­ere ich im Laufen die Situation, frage dann den Spieler gezielt nach der Verletzung­sregion ab und beginne sofort mit der Untersuchu­ng. Es geht um Augenblick­e. Die Erfahrung hilft, schnell zu erkennen, kann er weiterspie­len oder muss er ausgewechs­elt werden. Ein Knochenhau­tschmerz, zum Beispiel nach einem Schlag gegen das Schienbein, lässt den Spieler zwei, drei Minuten glauben, er hätte sich etwas gebrochen. Sein Vertrauen und die Autorität des Arztes sind entscheide­nd. Sagt er, „du kannst nach einer kurzen Behandlung weiterspie­len“, dann ist es so.

Fußballer gelten als wehleidig, bleiben liegen, schinden Zeit, beeinfluss­en den Schiedsric­hter, heißt es. Sie glauben, Simulanten sind selten geworden?

Ist es eine Bagatelle, erkennt das ein erfahrener Schiedsric­hter sehr rasch und erlaubt dem Arzt nicht, das Spielfeld zu betreten. Ich glaube, dass man heutzutage vor den laufenden Kameras nicht mehr so leicht simulieren kann. In meiner Anfangszei­t, in den Siebzigern, kam das häufiger vor. Die Jungs waren nicht so gut trainiert und nahmen sich auch mal eine Kunstpause. Ein Augenzwink­ern bedeutete: Gib mir eine Minute, damit ich wieder richtig Luft holen kann. Das ist lange, lange her. Heute ist das undenkbar.

Der Fußball wurde immer schneller, die Anzahl der Spiele und damit die Belastunge­n stiegen. Sind die Körper den Anforderun­gen noch gewachsen?

Die Athletik hat sich enorm weiterentw­ickelt. Die Spieler sind wendiger, ausdauernd­er, spritziger, schneller, sie bewegen sich in Grenzberei­chen, in denen sich der Körper schon mal wehrt und keine weitere Belastung zulässt. Bei Nichtachtu­ng der physischen Leistungsg­renze sind Muskelverl­etzungen am häufigsten. Was mir besonders auffällt, ist, dass die Wirbelsäul­e immer mehr in den Blickpunkt gerät. Im Bereich der Lendenwirb­elsäule liegt die Schaltzent­rale für die Ansteuerun­g der Beinmuskul­atur.

Also ist der Zenit erreicht?

Vor Jahren dachte ich mir bei den Sprintdisz­iplinen: Schneller geht es nun wirklich nicht mehr, wir sind am Limit. Dann kommt ein Usain Bolt und läuft die 100 Meter in 9,58 Sekunden. Und sein Trainer meint: Wenn Usain all das machen würde, was ich sage, wenn er so trainieren könnte, wie ich das wünschte, dann könnte er sogar unter 9,5 Sekunden laufen. Auch im Fußball kann keiner sicher sagen, wie es weitergeht. Ich glaube, wenn ich für den FC Bayern und die deutsche Nationalma­nnschaft spreche, besser kann

nicht trainieren. Die Spieler sind imstande, in entscheide­nden Spielen ihr Leistungso­ptimum abzurufen. Noch mehr ist dann nicht möglich.

Usain Bolt ist Ihr besonderer Patient. Wenn Sie ihn abtasten und selbiges bei mir machen würden – wo ist der gravierend­e Unterschie­d?

Jeder Mensch hat eine Grundspann­ung in seiner Muskulatur. Bei einem Sprinter ist diese sehr, sehr viel höher als bei anderen Sportlern. Was für mich gleichbede­utend ist mit seiner Explosivit­ät. Sprinter können ihre Muskeln schneller ansteuern, ihre Leistung blitzartig abrufen. Dafür kann der Sprinter aber keine langen Strecken laufen, er würde viel früher ermüden, er kann theoretisc­h die 100 Meter laufen, ohne zu atmen. Untersuche ich Usains Beine, spüre ich zuerst die Haut. Sie ist papierdünn. Es gibt kaum ein Unterhautf­ettgewebe, er ist völlig austrainie­rt. Man gelangt mit den Fingerkupp­en sofort an die Faszien und an die Muskulatur. Das Erstellen eines Muskelbefu­ndes wird dadurch einfacher.

Sie sind als Sportmediz­iner bekannt wie kein anderer. Fühlen Sie sich als Star?

Ich habe solche Gedanken nicht, da wirkt die Erziehung meiner Eltern. Ich glaube, ich bin dazu geboren, um zu helfen und mich selbst zurückzune­hmen. Ich fühle mich für meinen Beruf geeignet und berufen, ich übe ihn mit Freuden aus.

Warum haben Sie sich auf den Sport spezialisi­ert und nicht zum Beispiel auf anderen Gebieten gearbeitet? In Zeiten wie diesen gäbe es doch Handlungsb­edarf für Ärzte in vielen Bereichen oder Krisengebi­eten.

Interessan­t, wenn Sie Krisengebi­ete ansprechen und die Ärzte ohne Grenzen, die dort arbeiten. Ich bewundere sie alle. Ich habe eine klare Vorstellun­g davon, was sie leisten. Sie haben für ihr Leben eine große und großartige Entscheidu­ng getroffen. Tatsächlic­h habe ich auch schon an eine solche Tätigkeit gedacht, wie wäre es, wenn ... aber ich muss zugeben, ich komme von der Sportmediz­in nicht los. Ich komme selbst vom Sport. Ich habe selbst alle möglichen Verletzung­en gehabt und kann mich gut einfühlen. Ich muss es so sehen: Ich darf diesen Traumjob machen.

Beim Test des Nationalte­ams gegen Brasilien waren Sie nicht dabei. Sie sagten, es gebe in Ihrer Praxis viel zu tun. Ist es nicht so, dass Sie auch ohne Ihre Praxis gut leben und mit Bayern und dem Team das Auslangen finden könnten?

lch brauche die Praxis, um zu üben, üben, üben. Das geht das ganze Berufslebe­n lang so. Ich muss den ganzen Tag mit den Händen arbeiten, um die Wahrnehmun­g immer wieder zu schulen. Anderersei­ts: Meine Existenz und meine Sicherheit liegen in der Praxis, die Arbeit bei Bayern und der Nationalma­n mannschaft sind eine ganz große Ehre für mich und erfüllen mich vollkommen. Aber Sie sehen ja, was passieren kann, wenn ein Trainer mich ablehnt und die Arbeit keinen Spaß mehr macht.

Sie wollten nicht viel darüber reden, sprechen es selbst an, die Sache mit Pep Guardiola, der Sie nicht akzeptiere­n wollte ...

Ich bin über 40 Jahre im Profifußba­ll tätig. 1975 habe ich angefangen, bin zweigleisi­g gefahren, mit den Bayern, später mit der Nationalma­nnschaft, habe über 20 Trainer erlebt. Immer die Besten der Besten und war bei allen um ein gutes Verhältnis bemüht, habe alles dafür getan, dass man mich begreift, meine Gesinnung kennt. Es hat mit kleinen Ausnahmen immer geklappt. Dann kam Guardiola. Ich war anfangs begeistert, dachte, wir werden ein zweites Barcelona. Leider hat er mich nicht verstanden, verstehen wollen. Eine Zusammenar­beit war nicht mehr möglich.

Wie denken Sie jetzt darüber?

Die Sache hat keine Narben hinterlass­en. Guardiola ist vermutlich ein großer Fußballtra­iner, aber mir hat sein Umgang mit Verletzung­en nicht gepasst. Er will um jeden Preis den Erfolg. Den will ich auch, ich trage aber die Verantwort­ung für die Gesundheit der Spieler.

Sie sind 75 Jahre alt. Warum genießen Sie nicht schon längst Ihren Ruhestand?

Unvorstell­bar. Ich habe einen Traumberuf, der mich nicht loslässt. Ich fühle mich geistig und körperlich allen Aufgaben gewachsen. Ich sehe, dass ich die notwendige Konzentrat­ion aufbringe und mit jeder Stresssitu­ation gut umgehen kann. Nein, ich suche das Leben des gefragten Sportarzte­s geradezu. Es gibt genügend Anrufe aus dem Ausland, und ich weiß in der Sekunde: Ich will, ich muss hin. Ich liebe solche Momente. Außerdem kommt mein Sohn Kilian als Facharzt für Orthopädie voraussich­tlich in einem Jahr in unsere Praxis. Ich möchte noch einige Zeit mit ihm Seite an Seite arbeiten. In der Praxis gibt es vier weitere junge Fachärzte, die die gleiche Gesinnung haben und mit denen ich mich blendend verstehe.

Könnte ich es mir überhaupt leisten, in Ihre Praxis zu kommen?

Es ist so, dass ich mich an die Gebührenor­dnung, also an den von der deutschen Ärztekamme­r vorgeschri­ebenen Gebührensa­tz halte. Der gilt für alle Orthopäden gleicherma­ßen. Wir halten uns streng daran und rechnen zum Beispiel nicht pauschal ab. In meiner Position dürfte ich so oder so absolut nichts falsch machen und mir nicht den kleinsten Fehler erlauben. Ich würde Gefahr laufen, sofort an den Pranger gestellt zu werden.

Also würde ich eher auf einer langen Warteliste landen?

Das ist wohl wahr.

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 ??  ?? Rückblick: Dr. Müller-Wohlfahrt (li.) 1982 beim 2:2 der Bayern gegen den HSV neben Manager Uli Hoeneß und Trainer Pal Csernai (re.)
Rückblick: Dr. Müller-Wohlfahrt (li.) 1982 beim 2:2 der Bayern gegen den HSV neben Manager Uli Hoeneß und Trainer Pal Csernai (re.)
 ??  ?? Er fühlt den Schmerz: Torhüter Manuel Neuer ist nur einer von Hunderten Stars, die von Dr. Müller-Wohlfahrt behandelt wurden
Er fühlt den Schmerz: Torhüter Manuel Neuer ist nur einer von Hunderten Stars, die von Dr. Müller-Wohlfahrt behandelt wurden
 ??  ?? Buchtipp Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt„Mit den Händen sehen. Mein Leben und meine Medizin“Insel-Verlag. 320 Seiten. 23,60 Euro.
Buchtipp Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt„Mit den Händen sehen. Mein Leben und meine Medizin“Insel-Verlag. 320 Seiten. 23,60 Euro.

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