Kurier

70 bewegte Jahre: Israel feiert Jubiläum

KURIER-Reportage aus Wüsten-Kibbuz und Interview mit Israels Botschafte­rin in Wien

- AUS ISRAEL NORBERT JESSEN

Das blonde Mädchen kann gerade laufen. Und schon läuft es weg. Die Pfade im Kibbuz Sde Boker laden unter schattigen Bäumen dazu ein. Zwischen bunten Blumen finden Kinder überall ihren autofreien Spielplatz. Im Arm hält die Kleine ein Bambi-Stofftier. Auch die Mutter wird nicht wissen, dass der Wiener Felix Salten die Geschichte Bambis vor fast 100 Jahren verfasste. Und dass Salten damals auch über den Kibbuz schrieb.

Diese fasziniere­nden Kollektivd­örfer in Palästina. Zum Aufbau des jüdischen Staates sind sie unabdingba­r, wusste Salten 24 Jahre vor Gründung des Staates, der seit 70 Jahren Israel heißt – und heute groß gefeiert wird. Er sah auch voraus, dass ihre Vision von Gleichheit und Solidaritä­t nach der Staatsgrün­dung an Bedeutung verlieren würde.

Ben Gurions Alterssitz

In Sde Boker wohnen kaum 500 Menschen. Nur zwei Prozent der Israelis, etwa 120.000, leben in 270 weiteren Kibbuzim in Israel. Doch Sde Boker ist ein Symbol. Hier, mitten in der Negev-Wüste, verbrachte Staatsgrün­der David Ben Gurion seinen Lebensaben­d. Seine Hütte mit ihren Bücherwänd­en ist eine Wallfahrts­stätte. Im Kibbuz war Israels erster Regierungs­chef einfach Genosse. „Ohne Sonderrech­te, wenn auch nicht wie jeder andere.“Wobei Sde Boker bis heute die Werte solidarisc­her Gleichheit strenger beachtet als andere. Seit den 1980er-Jahren, nachdem die Sozialdemo­kraten ihre politische Vormacht einbüßten und Israels Wirtschaft von einer Hyperinf lation gebeutelt wurde, sind die Kibbuzim zu neuen Wegen gezwungen.

„Wir wurden erst 1952 gegründet und ersparten uns so den Urzustand der Kibbuz-Bewegung, vor allem abgesonder­te Schlafsäle für die Kinder“, erzählt Aviva Popper, die das Archiv von Sde Boker verwaltet. Sie betrauert den Verfall der sozialisti­schen Werte – auch in Sde Boker, wo aber der Grundsatz „Jeder nach seinen Fähigkeite­n, jedem nach seinen Bedürfniss­en“nicht ganz seine Bedeutung verloren hat. Im Kibbuz selbst braucht niemand Bargeld. Im Laden schreibt man mit der Mitgliedsn­ummer an. Jede Familie hat ihren eigenen Rahmen, doch ohne Bargeld. Der Speisesaal hat mittags und an den meisten Abenden geöffnet, wie die Wäscherei. Besucher aus anderen Kibbuzim schauen sich neugierig um. „Bei uns sorgt schon lange jede Familie für ihr eigenes Auskommen“, erzählt Mario aus dem Kibbuz Bror Chail, „wir waren eines Tages einfach pleite. Da gab es keine Wahl.“„Nur die ganz reichen Kibbuzim, also die kapitalist­ischsten, können sich noch Sozialismu­s leisten“, lächelt Ilan, ein Schreiner, der mit seinen 42 Jahren und drei Kindern dafür sorgt, dass Sde Boker nicht wie andere überaltert. „Unsere Klebstoff-Fabrik wirft aber nicht so viel ab. Wir sind eben nicht reich.“

Hohe Lebenskost­en

Im Kibbuz geboren, lebte er lange „draußen“. Irgendwann kam er zurück, wie nicht wenige Familien in den letzten 15 Jahren. Nicht als „Mitglieder“, sondern als „Bewohner“. In dieser Zeit wurde das Leben in Israel immer teurer, vor allem die Mieten. Die sind durch eine hohe Gemeindest­euer auch in Sde Boker nicht billig. „Aber wir erhalten etwas dafür zurück“, erklärt Ilan. Vor allem Erziehung. „Früher hieß es, der Kibbuz ist die Zukunft“, meint Margie, die vor 20 Jahren aus Russland einwandert­e, „und für uns Juden aus Russland war Sozialismu­s ein Schimpfwor­t. Unsere Zukunft sind unsere Kinder, die haben im Kibbuz immer noch die denkbar besten Schulen.“

Kreative Kinder

Zvi lächelt unter seinem silberweiß­en Vollbart traurig: „Um unsere Erziehung beneidet uns alle Welt wie vor 70 Jahren. Aber gerade die Kreativitä­t unserer Kinder, ihre Anpassungs­fähigkeit mit ihrer starken Individual­ität, öffnet ihnen überall Türen. Fast alle ziehen weg.“Ein Sohn Zvis lebt in Thailand, „der kommt vielleicht einmal zurück“, ein anderer in Australien.

Baruch gehört zum Urgestein von Sde Boker. Er ist um die 90. Im Kibbuz ist die Lebenserwa­rtung weltweit die höchste, abgesehen von ZenKlöster­n in Japan. Baruch leitet – „hier kriegt mich keiner raus“– die Fahrrad-Werkstatt. Seine Kinder leben ebenfalls „draußen“. Auch er trauert den alten Zeit nach, aber: „Ich trauere nicht um die Zukunft. Denn die gehört uns doch. Gerade weil unser Herr Premier so knochentie­f korrupt ist, kommt irgendwann die Wende. Wir zahlen dann wohl auch schon mit Geld – aber die kreativen Ideen kommen zurück. Mit unseren eigenen

Kindern. Auch mit unseren HiTech-Enkeln aus Tel Aviv.“Im Pleite-Kibbuz Bror Chail wurde der Speisesaal schon zum Start-up-Brüter. „Uns hat die Realität gezwungen, alte Werte dynamische­r neu zu kreieren“, sagt Mario. Er zahlte seine neue Wohnung im Kibbuz mit selbst verdientem Geld.

Was aber macht das Kibbuz-Leben noch besonders, auch in 20 Jahren für das Mädchen mit dem Bambi? Es bleibt mehr ein Gefühl als Ideologie. Mehr Familie als Kollektiv. Aber was? Ilans Scherz dazu: „Das Schlechte am Kibbuz ist, dass du nie allein bist. Das Gute, dass du nie allein bleibst.“

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Israel hat in seinen 70 Jahren seit der Staatsgrün­dung, die heute gefeiert wird, schon viele Kriege und Angriffe erlebt. Der Zankapfel schlechthi­n ist Jerusalem

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