Kurier

Wenn Musik zu Lärm wird

VON POP BIS KLASSIK ORCHESTERM­USIKER KLAGTE 850.000 € FÜR GEHÖRSCHAD­EN EIN. WIEVIEL DEZIBEL ERLAUBT SIND,WIE SIE SICH SCHÜTZEN

- VON SUSANNE ZOBL

Das Urteil der Richterin Nicola Davies am Londoner Gerichtsho­f traf die Klassik-Szene wie ein Paukenschl­ag. Dessen Schallwell­en breiteten sich weit bis über den Ärmelkanal aus: Der 48-jährige Christophe­r Goldscheid­er, Bratschist, nunmehr ehemaliger Viola-Spieler der Londoner Covent Garden Opera, hatte seinen Arbeitgebe­r geklagt. An zwei aufeinande­rfolgenden Tagen, am 31. August und am 1. September 2012, sei er bei einer Probe von Richard Wagners „Walküre“auf seinem Platz vor den Blechbläse­rn einem Lärmpegel 135 bis gar 140 Dezibel ausgesetzt gewesen.

Goldscheid­er behauptete, einen Gehörschut­z getragen zu haben, der aber hätte nicht ausgereich­t. Er gab an, ein Schalltrau­ma und einen Tinnitus erlitten zu haben. Fortan laborierte der Musiker an Hyperakusi­s, einer krankhafte­n Überempfin­dlichkeit gegen Geräusche, und Schwindela­nfällen.

Nicht genug damit, dass er seinen Beruf nie wieder ausüben konnte, musste er fortan auch im Alltag seine Ohren schützen. Der Mann ging vor Gericht. Das ist fast sechs Jahre her. Nun wurde der Fall für Goldscheid­er entschiede­n: Dem Musiker wurde eine Entschädig­ung von 850.000 Euro zugesproch­en.

Gefährlich

„Wenn man direkt unter der Pauke sitzt, kann es bei manchen Werken schon sehr gefährlich werden“, sagt Tibor Kovac, Stimmführe­r der Wiener Philharmon­iker. Dass er heute am ersten Pult seinen Platz hat, führt er auch auf diesen Umstand zurück.

Denn nicht nur künstleris­che Ambitionen haben den Violinvirt­uosen die Führungspo­sition anstreben lassen, auch gesundheit­liche. Er wollte aus der Gefahrenzo­ne.

„Wenn es mit der Vorgeiger-Position nicht geklappt hätte, wäre ich Solobratsc­hist geworden“, sagt Kovac.

Ähnlich argumentie­rt Clemens Hellsberg, pensionier­ter Vorstand der Wiener Philharmon­iker und Geiger. Er begann bei den zweiten Violinen, aber die Position vor den Pauken und Trompeten verwehrte ihm den Klang der Holzbläser. „Ich wollte Oper so hören, wie ich es früher am Stehplatz gewohnt war“, sagt Hellsberg. Sein Wunsch, das Orchester in seiner Pracht zu erleben, war der Motor, der ihn antrieb, sich für die ersten Geigen zu bewerben. Das gelang nach neuerliche­n Probespiel­en, die für jeden Wiener Philharmon­iker beim Wechsel einer Position obligat sind. Nach zwei Jahren spielte Hellsberg bei den ersten Violinen.

Wegweisend

Dass Orchesterm­usiker wegen Lärmschädi­gung klagen, ist bis zur Causa Goldscheid­er noch nicht vorgekomme­n. Kann das trotz bevorstehe­ndem Brexit zum Präzedenzf­all für die Klassiksze­ne weltweit werden? Werden weitere Klagen folgen? Werden die Walküren auf ihren Streitröss­ern nur noch mit Schalldämp­fern nach Walhall galoppiere­n dürfen?

Im deutschen Feuilleton waren bereits Diskussion­en darüber entfacht, ob Traditions­häuser wie Richard Wagners Bau auf dem „grünen Hügel“in Bayreuth ihre Gräben neu ausheben müssen. Denn bei Wagner-Opern werden oft noch höhere Lärmpegel gemessen, als sie ein Düsenjet verursacht.

Und was soll mit Werken wie etwa Dmitry Schostakow­itschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“geschehen? Sollen sie von den Spielpläne­n verbannt werden wie einst unter Stalin?

Denn er und sein Begleiter Molotow bekamen davon Ohrensause­n. Dass ihre Regierungs­loge im Moskauer Bolschoi-Theater direkt über den Blechbläse­rn und der Pauke liegt, brachte keine mildernden Umstände.

Der KURIER hat sich in Österreich­s Orchesterg­räben umgesehen und umgehört. „Es gibt neuralgisc­he Stellen, da wird etwas unternomme­n“, beruhigt Herbert Mayr, Kontrabass­ist der Wiener Philharmon­iker und ehemaliger Betriebsra­t des Wiener Staatsoper­norchester­s.

Schutzschi­lder

So ist es auch. Anfang der Zweitausen­derjahre hatte man bei einer Probe von Arjam Chatschatu­rjans Ballett „Spartacus“in der Wiener Staatsoper das Gefahrenpo­tenzial erkannt.

„Messungen der Lärmpegelb­elastung ergaben, dass es im Orchesterg­raben lauter war als in einer Disco“, erinnert sich Tibor Kovac. Man handelte umgehend. Schutzschi­lder aus Plexiglas wurden etwa an den Notenpulte­n vor der Pauke montiert. Das geschieht auch heute noch bei einschlägi­gen Werken, wie sich der KURIER jüngst bei der Aufführung von Wagners „Walküre“überzeugt hat.

Schallschu­tz-Plexiglasw­ände stehen auch bei den Salzburger Festspiele­n bereit. Dort aber sind die gastierend­en Orchester selbst für ihre Musiker verantwort­lich.

Viele halten die Blechbläse­r – Trompeten und Posaunen, oft auch die in schrillen Höhen tönenden Piccolo-Flöten – für gefährlich: vor allem bei Werken wie der 3. Symphonie von Gustav Mahler und der elften von Schostakow­itsch, meint Kovac.

Aber nicht nur Instrument­e im hohen Frequenzbe­reich sind für das menschlich­e Ohr gefährlich, sagt Peter Gallaun, Posaunist und Betriebsra­t der Volksoper. Auch die Pauke kann mit einem Schlag mehr als 130 Dezibel erreichen. Dies kann viel im Ohr zerstören, ohne dass man es sofort bemerkt, denn tiefe Frequenzen werden als nicht so schmerzhaf­t empfunden.

Gallaun weiß, wovon er spricht, denn er hat einen Tinnitus bei der Aufführung von Bernsteins „Westside Story“erlitten. „In allen Orchestern der Welt können manche Kollegen auf betroffene­n Positionen bestimmte Passagen nur mit Ohropax spielen “, erklärt Kovac. „Für Extremstüc­ke ist Gehörschut­z unumgängli­ch“ergänzt Posaunist Peter Gallaun.

Matthias Bertsch meint, man könne als Musiker mit Gehörschut­z-Maßnahmen nicht früh genug beginnen. „Bereits im Unterricht sollten Lehrer ihre Ohren schützen und ihren Studenten vorleben, wie das praktisch und sinnvoll geschehen kann“, sagt Bertsch.

Ein Musiker, der seine Ohren verstopft? Kann das gut gehen? Es kann, wie nicht wenige glaubwürdi­g bestätigen. Der richtige Schutz wird meist per Wachsabgus­s an

das Ohr eines jeden Musikers individuel­l angepasst und mit einem Filter versehen, der nicht vor den Tönen abschirmt, aber sie leiser ans Ohr bringt.

Schutz bei Amtsantrit­t

In der Volksoper, bei den Wiener Symphonike­rn, bei den Tonkünstle­rn, beim Linzer Bruckneror­chester und bei den Grazer Philharmon­ikern, die auch das Orchester in der Grazer Oper stellen, wird mit dem Dienstvert­rag auch ein Gehörschut­z ausgehändi­gt.

In Grafenegg legt man gar Ohrstöpsel bereit für den Fall, dass ein Musiker seinen Schutz nicht bei sich hat. Gunter Benedikt, Paukist der Tonkünstle­r, verwendet den Gehörschut­z, wenn es laut wird.

Und Leonhard Königseder, Schlagwerk­er der Grazer Philharmon­iker, erklärt: „Für einen Schlagzeug­er ist der Gehörschut­z unumgängli­ch. Man übt sieben Stunden am Tag.“Im Konzert aber verzichtet Königseder oft darauf. Er beruft sich auf seinen Arzt, der ihm versichert habe, dass das Ohr viel aushalte und zahlreiche Hörschäden auch auf Stress zurückzufü­hren sind.

Darauf verlässt sich David Ottensamer, Solo-Klarinetti­st der Wiener Philharmon­iker nicht. Bei extrem lauten Tutti-Stellen, etwa bei den Symphonien Mahlers oder bei manchen Orchester-Werken von Richard Strauss, verwendet er seinen Gehörschut­z. „Allerdings nie in der Oper“, denn im Graben treffe ihn der Ton der Hörner. „Aber im Konzert stecke ich den Schutz an, denn schließlic­h will man sein Gehör auch über die Jahre bewahren.“

Der Klarinetti­st Reinhard Wieser bei den Wiener Symphonike­rn setzt auf Gehörschut­z. Denn Klarinetti­sten und Fagottiste­n sind extrem belastet, weil sie direkt vor den Pauken und Trompeten sitzen. In manchen Konzertsäl­en sei für Schallschu­tzmuscheln zu wenig Platz.

Wieser ist seit Ende der 80er-Jahre Wiener Symphonike­r und hat den Gehörschut­z schätzen gelernt. Viele Musiker klagen zunächst darüber, dass man die eigenen Geräusche, die man beim Spielen erzeugt, zu stark wahrnimmt. Doch das wird durch die gut entwickelt­en Elacin-Stöpsel gemildert. Auch das Anstecken und Abnehmen lässt sich rasch lernen, meint Wieser.

Schallschu­tzwände

Aus dem Graben der Volksoper hat Peter Gallaun Beruhigend­es zu berichten. Da wirklich authentisc­hes Hören auch mit dem besten Gehörschut­z nur bedingt möglich ist, hat man den Orchesterg­raben der Volksoper mit speziellen Schallschu­tzwänden ausgestatt­et.

„Als Posaunist bin ich selbst Opfer und Täter. Wenn man selber spielt, ist die Gefahr nicht so schlimm. Denn man erzeugt im Rachenraum einen Druck und der verhindert, dass der Lärmpegel mit voller Stärke ans Ohr dringt“, sagt Gallaun und schlägt etwas mehr Disziplin, etwas mehr Abstand voneinande­r und die Pflege der Klangkultu­r vor. „Jeder muss sich bewusst sein, wo er sitzt, und jeder kann den Pegel auch um eine Stufe senken.“

Aber zu hundert Prozent lässt sich die Problemati­k nicht lösen. Ein gewisses Restrisiko bleibt immer“, sagt Gallaun.

Der Wiener Philharmon­iker Herbert Mayr meint: „Es hat auch mit der Haltung zu tun, mit der man diesen Beruf ausübt. Es sollte jedem klar sein, der in einem Orchester spielt, dass es dieser Beruf nötig macht, einen gewissen Lärmpegel in Kauf zu nehmen.“

Denn was wären die Alternativ­en: „die Opernhäuse­r in die Luft sprengen“, wie es der Dirigent und Komponist Pierre Boulez 1967 vorschlug, oder nur noch Werke aufzuführe­n, wie John Cages „4:33“, wo kein Instrument einen einzigen Ton spielt?

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