Kurier

„Die Linke muss sich öffnen

- VON JOSEF ERTL

Josef Weidenholz­er.

Josef Weidenholz­er ist seit 2011 Mitglied des Europäisch­en Parlaments. Seit 2015 ist der 68-Jährige auch Vizepräsid­ent der Allianz der Sozialdemo­kraten im Europaparl­ament. Er ist in St. Florian am Inn aufgewachs­en und war Vorstand des Instituts für Gesellscha­ftspolitik an der Johannes Kepler Universitä­t. In der Woche nach Ostern war er als Leiter einer Parlamenta­rierdelega­tion in Nigeria, nun war er in Bagdad.

Karl Marx würde am 5. Mai seinen 200. Geburtstag feiern. Wie weit ist er heute noch aktuell?

Marx war einer jener Philosophe­n, die ihr ganzes Leben unglaublic­h viel geschriebe­n haben. Es gibt daher unterschie­dliche Argumente, so kann sich jeder seinen Marx zurechtleg­en. Es ist viel passiert, was unglaublic­h verheerend war, wenn ich an Russland oder China denke. Wenn man Marx richtig verstanden hätte, hätte das nicht passieren dürfen. Marx hatte sehr wohl eine klare Vorstellun­g von Demokratie und der Ermächtigu­ng von Menschen, die nichts zu reden hatten. Seine große politische Leistung war, dass er eine Schicht, die überhaupt keinen Zugang zu Bildung und philosophi­schem Denken gehabt hat, eine Er- mächtigung gegeben hat, in die Geschichte einzugreif­en.

Das war das Proletaria­t.

Er hat ihnen die Gewissheit gegeben, dass sie deswegen nicht dümmer sind, weil sie weniger verdienen. Und dass sie eine Würde haben. Das war seine große Leistung.

Wenn ich mir heute den Zustand der Linken anschaue, dann ist das nicht unbedingt der Fall. Die Menschen, die ausgegrenz­t sind und nicht mehr mitkönnen, finden sich nicht in einer Philosophi­e wieder, die ihnen sagt, ihr habt eine Chance, wenn ihr euch gemeinsam betätigt. Sie haben die Vorstellun­g, dass sie selbst durchkomme­n und dass sie individual­istisch ihre Ellbogen gegen die anderen ausfahren müssen.

Selbst in der katholisch­en Soziallehr­e wird die analytisch­e Leistung von Marx gewürdigt.

Das war die große Leistung, die heute viel nüchterner gesehen werden kann als früher. Er hat eine wichtige Frage in den Mittelpunk­t gerückt, nämlich die Gleichheit der Menschen. Dass die Menschen von sich aus gleich wären, dass es aber Prozesse gibt, warum Ungleichhe­it entsteht. Das ist nach wie vor seine aktuelle Bedeutung. Selbst in Ländern, wo der Marxismus überhaupt nie eine Chance gehabt hat wie in den USA, gibt es plötzlich sehr viele junge Menschen, die mit Begeisteru­ng für Bernie Sanders eintreten. Zeitungen wie die New York Times vertreten die Meinung, wir brauchen einen neuen Karl Marx, der die Welt wieder erklärt.

Marx war an sich kein Antikapita­list, sondern er hat ihn studiert, wie er funktionie­rt.

Wie stark beeinfluss­t Marx heute noch die Politik?

Die eine Version des Marximus war, dass der Kapitalism­us an seinen Widersprüc­hen zugrunde gehen wird und dass automatisc­h eine bessere Gesellscha­ft kommt. Im messianisc­hen Sinn stimmt das so nicht. Viele Parteien, die sich darauf verlassen haben, sind an ihr Ende gekommen.

Aber dass Wirtschaft­s- formen unser Leben prägen und dass man nicht einfach sagen kann, die Wirtschaft soll sich selbst regulieren, ist nach wie vor sehr aktuell. Es ist ein Problem der Linken in Europa, dass sie Menschen, die von Ungleichhe­it und Ängsten betroffen sind, keine Perspektiv­e geben kann.

„Es ist ein Problem der Linken, dass sie Menschen keine Perspektiv­e geben kann.“

Warum nicht?

Man muss wieder anfangen, das Öffentlich­e zu entdecken. Wir haben uns eingeredet, es funktionie­rt dann, wenn alles privatisie­rt ist, wir brauchen keine öffentlich­e Verantwort­ung, wir brauchen nichts zu regulieren, denn es reguliert sich alles von selbst. Das ist der große Denkfehler. Die Linke muss wieder anfangen, eine öffentlich­e Verant-

 ??  ?? Josef Weidenholz­er auf dem Weg in den Irak.
Josef Weidenholz­er auf dem Weg in den Irak.

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