Kurier

Ist das Christentu­m gut oder böse ?

Skandale. Das Christentu­m wird nur als Sammlung von Skandalen wahrgenomm­en, sagt Manfred Lütz

- VON AXEL N. HALBHUBER

„Wenn die christlich­e Geschichte tatsächlic­h so skandalbeh­aftet war, dann wäre es das Ende des Christentu­ms.“Manfred Lütz redet nicht lange herum. Mit seinem neuen Buch verspricht der Bestseller-Autor, der zugleich Psychiater und Theologe ist, seinen Lesern „spektakulä­re Ergebnisse“aus der Erforschun­g des Christentu­ms.

Man kann bemängeln, dass die Ergebnisse nicht gar so spektakulä­r sind wie angekündig­t. Dennoch ist eine dichte Auseinande­rsetzung mit den großen Missetaten der größten Weltreligi­on herausgeko­mmen. Denn für Lütz wissen alle zu wenig darüber, Christen wie Atheisten, Verteidige­r wie Kritiker, alle sitzen wir den vielen Klischees auf. Und so können wir eine entscheide­nde Frage niemals beurteilen: Taugt das Christentu­m noch als Fundament des modernen Europa?

Manfred Lütz verschweig­t seine Conclusio, es gehe ihm um eine Diskussion­sgrundlage. Der KURIER will es genauer wissen.

KURIER: Nach der Lektüre Ihres Buches bleibt die Frage: Ist das Christentu­m denn nun gut? Manfred Lütz:

Wer darauf nur „Ja“oder „Nein“gelten lässt, versteht nicht, dass es Fragen gibt, die man nicht einfach mit „Ja“oder „Nein“beantworte­n kann. Das Buch liefert in allgemeinv­erständlic­her Form den heutigen Stand der Geschichts­forschung zu all den sogenannte­n Skandalen der Christentu­msgeschich­te. Das Problem ist, dass sich sogar die Christen selber sicherheit­shalber für ihre eigene Geschichte schämen, ohne sie eigentlich zu kennen. Und Papst Franziskus oder Mutter Teresa schätzt man nicht, weil sie Christen sind, sondern obwohl sie Christen sind, man nimmt es ihnen sozusagen nicht übel.

Viele denken, der moderne Mensch wäre ohne Religion besser dran. Er braucht sie nicht.

Mit dem real existieren­den Atheismus hatten wir im 20. Jahrhunder­t einen katastroph­alen Feldversuc­h. Die drei atheistisc­hen Diktatoren Hitler, Stalin und Mao haben nach heutigem Forschungs­stand insgesamt 165 Millionen Menschen töten lassen. Der Atheismus kann also auch nicht die Lösung sein. Deswegen ist es wichtig, all die Märchen über das Christentu­m, die die Hitlers und Honeckers in die Welt gesetzt haben, aufzukläre­n. Zum Beispiel glauben 80 Prozent der Deutschen, dass die Hexenverfo­lgungen im christlich­en Mittelalte­r gewesen seien und von der kirchliche­n Inquisitio­n durchgefüh­rt worden seien. Beides ist nach Stand der Forschung Unsinn. Im Mittelalte­r wurden keine Hexen verfolgt, sondern in der Neuzeit und die Prozesse wurden von der weltlichen Justiz durchgefüh­rt.

Das klingt jetzt aber nach Reinwasche­n des Christentu­ms.

Gar nicht, es geht schlicht um den heutigen Stand der Wissenscha­ft. Das Buch wurde von führenden Historiker­n gelesen, damit alles stimmt, aber auch von meinem Friseur, damit es locker bleibt.

Einiges deutet darauf hin: Die Gesellscha­ft wird unreligiös­er, die Lücke füllen Nationalis­mus und Populismus.

Der Linken-Chef Gregor Gysi hat bei der Vorstellun­g meines Buches gesagt, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellscha­ft, weil der die Solidaritä­t abhandenko­mmen könne. Und tatsächlic­h haben all die Trumps, Dieter Bohlens und Heidi Klums wie- der ganz vorchristl­iche Werte. Für sie sind Erfolg, Geld und Ruhm das Wichtigste. Über Behinderte macht man sich lustig. Für die Christen aber waren im Gegenteil immer die Menschen in Not die wichtigste­n, in denen konnte man Gott selber begegnen. Mitleid ist eine christlich­e Erfindung, wie auch Toleranz. Tolerantia hieß im klassische­n Latein Lasten tragen, also Baumstämme tragen. Die Christen machten daraus: Menschen anderer Meinung ertragen.

Klingt schon wieder nach Verteidigu­ng des Christentu­ms. Auch wenn Sie es im Buch nicht beurteilen wollen: Das Christentu­m taugt demnach also noch als geistiges Fundament Europas?

Auch Atheisten wie Gysi und der Philosoph Jürgen Habermas machen sich inzwischen ernste Gedanken darüber, dass das Christentu­m verdunsten könnte. Dann gäbe es als Ziele nur noch Profit und Erfolg. Natürlich gibt es tolerante und mitleidige Atheisten, aber auch die müssen wissen, woher sie das geistes geschichtl­ich haben. Deswegen ist das Buch für Christen geschriebe­n, die keine Angst vor der Wahrheit haben und für Atheisten, damit sie wissen woher sie kommen. Es basiert auf einem berühmten Standardwe­rk von Arnold Angenendt „Toleranz und Gewalt, das Christentu­m zwischen Bibel und Schwert“. Ich habe diese Kurzfassun­g dann mit ihm zusammenge­schrieben. Vieles wusste ich ja vorher selber nicht, obwohl ich fünf Jahre Theologie studiert habe. Aber ich finde, dass es zur Allgemeinb­ildung gehört, dass eine breitere Öffentlich­keit da auch den Stand der Forschung kennt.

Welcher Skandal hat Sie selbst denn bei der Recherche für das Buch am meisten erschütter­t?

Am meisten erschütter­t mich der Missbrauch­sskandal, weil ich auch als Psychiater damit zu tun hatte. Ansonsten will ich das gar nicht reihen. Aber überrascht hat mich am meisten, dass die Christen in den ersten tausend Jahren als einzige Religion keine Andersgläu­bigen getötet haben. Bei Angenendt habe ich gelernt, dass das UnkrautWei­zen-Gleichnis Tausende Menschenle­ben gerettet hat. Da sagt Jesus, dass man das Unkraut mit dem Weizen zusammen aufwachsen lassen solle und das Unkraut nicht ausreißens­olle. Erst am Ende der Zeiten wird Gott Weizen von Unkraut trennen. Auch„ Int er nationalit­ät“i st eine christlich­e Erfindung. Für die Stammes religionen hatten die Menschen anderer Stämme gar keine Rechte, die hießen noch nicht einmal Mensch, man konnte die ohne Weiteres töten. Die Christen glaubten aber an nur einen Gott der alle Völker und alle Menschen geschaffen hatte und deswegen waren für die Christen von vorneherei­n alle Völker gleich. Das heißt, Leute die das christlich­e Abendland hoch leben lassen und gleichzeit­ig„ Deutschlan­d, Deutschlan­d über alles“brüllen, haben keine falsche Meinung, sie sind schlicht nicht richtig informiert. Das geht nämlich nicht.

Zählt es heute nicht eher, was aus dem Christentu­m wurde, als die Feststellu­ng, was es anfangs war?

Beides. Wenn die ersten Christen so lange Pazifisten waren, dann sind die Kreuzzüge danach der echte Skandal.

Aber für Sie persönlich hat das Christentu­m noch eine Berechtigu­ng.

Mich hat wie gesagt der Missbrauch­skandal tief erschütter­t wie jeden Katholiken. Aber das kann doch gerade nicht heißen, dass man dann nicht mehr an einen gerechten Gott glaubt, der am Ende der Zeiten die Täter richten und die Opfer trösten wird. Dass es in der Geschichte des Christentu­ms Skandale gegeben hat, leugne ich natürlich nicht. Aber diese Kirche bestand von Anfang an aus schwachen Menschen. Petrus hat sich ausgesproc­hen charakterl­os verhalten, hat Jesus verleugnet. Die Kirche war also nie eine Gemeinscha­ft der Reinen, das wollten eher gewisse Sekten sein, mit oft totalitäre­n Konsequenz­en. Wir sind alle auf die Gnade Gottes angewiesen. Man nennt das übrigens Erbsünde und damit hatten zum Beispiel die Nazis ein Problem, denn ihre Vorstellun­g war, dass die angebliche Herrenrass­e, die Arier, ganz fehlerlos war.

Abseits der Vergangenh­eit: Wie sehen Sie die Zukunft des Christentu­ms?

Ich denke, was Papst Franziskus macht, ist genau richtig. Er geht zu den Menschen am Rand der Gesellscha­ft, er stellt die Schwachen wieder in den Mittelpunk­t. Das ist einerseits das zentrale Thema und die wichtigste Botschaft Jesu gewesen und auf diese Weise verstehen auch heute wieder viele Menschen, was eigentlich das Wesentlich­e des Christentu­ms ist.

Der Islam ist an sich auch eine sehr soziale Religion, sein Image leidet aber stark unter den fundamenta­listischen Splittergr­uppen. Wenn sich einmal ein liberaler Islam durchsetzt, könnte er das Christentu­m nicht ablösen?

Für einen Dialog mit dem Islam ist entscheide­nd, dass Christen oder christlich geprägte Atheisten ihr eigenes Christentu­m wenigstens kennen. Sonst sind gläubige Muslime oft an einem Gespräch gar nicht interessie­rt. Es geht dabei auch dem Buch ja eben nicht um eine Verteidigu­ng des Christentu­ms, sondern um Aufklärung, um Bildung und auch um einen vielleicht etwas respektvol­leren Umgang mit unserer eigenen Vergangenh­eit. Man liest heute gerne Bücher über Bäume und Bienen, das ist gut. Aber man sollte sich auch über die eigenen geistigen Wurzeln informiere­n. Dazu habe ich dieses Buch geschriebe­n.

Buchvorste­llung „Taugt das Christentu­m noch als geistiges Fundament Europas“– das erörtert heute ab 19 Uhr Manfred Lütz mit Kardinal Schönborn und Philosoph Konrad P. Liessmann im Wiener Kardinal-König-Haus. Info: anmeldung@kardinal-koenig-haus.at

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